Der verletzliche Weg
Ute Paul - „Was hast du uns deutschen Christen zu sagen?“ Diese mutige, offene Frage stellte unser Prior Konstantin Mascher unserem irakischen Gast auf der Bühne am Tag der Offensive 2022. Er ist ein chaldäischer Katholik, der sich gemeinsam mit seiner Frau engagiert und weitsichtig der Suchenden, Geflüchteten, Traumatisierten annimmt und als Christ sein Land mitgestalten möchte. Die nicht gehen, sondern bleiben. Die mit ihrem ganzen Leben die Hoffnungsbotschaft von Jesus ausstrahlen. Diesen fragte Konstantin. Und ich meinte zu spüren, dass das deutsche Publikum den Atem anhielt, gespannt und erwartungsvoll, bereit für die Sichtweise von außen auf unsere Wirklichkeit.
Diese Frage knüpfte direkt an eine Begegnung vor 30 Jahren an, die für Franks und mein Leben wegweisend wurde. Mit Mitte 20 hatten wir in der OJC ein Ehepaar getroffen, sie wurden später unsere Mentoren: Cathy und René Padilla, Theologen und Pastoren in Argentinien, Vorreiter im Nachdenken und Handeln in ganzheitlicher Mission. Was uns damals in Bensheim gleich auffiel: Die quirlige Großfamilie der OJC, Junge und Alte, hörte mit großen Ohren und Herzen den Herausforderungen, sogar Zumutungen zu, die ihnen von diesen feurigen Menschen aus Südamerika entgegenkamen. Sie waren bereit, ihren deutschen Horizont als Christen zu weiten für die Fragen aus anderen Teilen der Welt.
„Wie können nun Christen in der (weltweiten) Mission geeint sein, solange viele von ihnen, insbesondere im Westen, einen aufwändigen Lebensstil an den Tag legen, während die große Mehrheit, besonders in der unterentwickelten Welt, nicht in der Lage ist, die grundlegendsten menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen? Die Armut der Dritten Welt setzt ein Fragezeichen hinter den Lebensstil der Menschen und besonders der Christen im Westen.“
(R. Padilla: Anstiftung, Evangelium für die armen Reichen, 1986, S. 92).
Frank und ich begannen zu begreifen: So versteht man in der OJC internationale Partnerschaft und so geht Weihnachtsaktion auf OJC! Eben nicht: Wir sind die Helfer, die anderen brauchen Hilfe. Nicht: Wir haben die Lösungen und unser Geld macht sie dort möglich. Sondern viel eher: Was für ein Vorrecht, in Beziehung zu sein mit Frauen und Männern Gottes aus anderen Teilen der Erde, die uns vormachen, dass der Glaube an Jesus tatsächlich in Bewegung setzt – und das besonders dort, wo Not, Widerstand, Rückschläge, Ungerechtigkeit groß sind. Wir „armen Reichen“ dürfen selber Hoffnung schöpfen, dürfen diese engagierten Menschen unterstützen, staunen über ihre guten Ideen, mit ihnen weinen und für sie beten – und reichlich abgeben, so viel, dass wir es sogar ein klein wenig auf dem eigenen Teller merken.
Frank und ich hörten damals in der OJC: Es geht um Lebensstil-Mission! Das ganze Leben ist involviert. Das ganze Leben spricht. Wir sogen das auf, es prägte unser Denken und Handeln.
An der Seite von Padillas dann ab 1990 in Argentinien lernten wir weiter: Nein, es ist nicht egal, wie Hilfe geschieht! Der gute Wille allein reicht nicht – auch nicht der gute Wille von Christen. Mit den Augen der Südamerikaner begannen auch wir kritisch hinzuschauen, was sich da so alles tummelte in den „Projekten“ oder in den Missionsbemühungen, finanziert mit viel Geld aus dem westlichen Ausland. Wir sahen, wie Padillas mit ihrem alten Renault in den Slum fuhren und Sonntag für Sonntag mit den jungen Erwachsenen im Kreis rund um die Bibel saßen – und waren schockiert von den Villen mit Schwimmbad einiger ausländischer Missionare.
Was sollten die „Schäfchen“ denn davon lernen? Man wird reich, wenn man Jesus folgt?
Unsere Lehrmeister zeigten uns: Wer andere stark machen will, muss sehen lernen, was sie haben, was sie selber wollen, was ihnen wichtig ist. Es gibt so viel Hilfe, die klein macht. Hilfe, die nicht abwarten kann, bis lokale eigene Lösungsinitiativen erwachsen. Hilfe, die mit importiertem Geld die Regeln vor Ort bestimmt. Wer versucht anders zu handeln, muss bereit sein, bei und mit den Menschen zu leben, Privilegien und westliche Vorstellungen loszulassen, Ohnmacht auszuhalten, den lokalen Ressourcen und vor allem Gottes Wirken Vorrang einzuräumen.
Ganz wie Jesus.Der gab sogar auf, wie Gott zu sein, „nahm Knechtsgestalt an“ (Phil 2,7) und „zeltete“ (Johannes 1,14) unter uns. Diesem Vorbild folgen die Schülerinnen und Schüler von Jesus: Sie sind nicht mehr als ihr Meister. Sein Weg war höchst verletzlich.
Aber ach, so unbequem ist dieser Weg, fanden wir. Zwar überzeugt, aber eher stolpernd, versuchten wir als Familie in einem Armenviertel von Buenos Aires auf dieser Spur zu bleiben. Wollten in der kleinen evangelischen Basisgemeinde „Fe y Vida“ (Glaube und Leben) doch wieder unser theologisches Wissen anbringen statt auf den Lebensbezug zu hören, den die Leute selber zu biblischen Texten herstellten. Wollten doch mehr erziehen als begleiten, anderen unsere Art der Planung beibringen, unseren Umgang mit Geld, unsere klugen Ideen. Schafften es nicht zu warten, bis jemand – nach gehöriger Zeit der Vertrauensbildung – uns vielleicht Fragen stellte, z.B. warum unsere Kinder keinen Fernseher hatten. Fanden es mühsam, in der fremden Sprache korrigiert zu werden, schwach zu sein.
Dann zeigten sich zunehmend die erfreulichen Auswirkungen der Ein- und Unterordnung ins lokale Gefüge: die jungen Leiter signalisierten deutlich, dass sie uns dabeihaben wollten, und begrenzten uns zugleich ohne Scheu, wenn wir uns für ihr Empfinden „einmischten“. Sie baten uns für konkrete Aufgaben um Hilfe, machten aber ansonsten das Meiste gerne selber. Mit großer Selbstverständlichkeit kamen sie uns besuchen und öffneten ihrerseits ihre Häuser für uns. Gemeinsam suchten wir Gott und das Wohl des Stadtviertels. Tiefe Freundschaften auf Augenhöhe entstanden, die bis heute lebendig geblieben sind.
Im argentinischen Chaco dann ab 1995 betraten wir staunend den bereits seit einigen Jahrzehnten gebahnten Pfad der „Misión sin conquista“ (Mission ohne Eroberung) bei den indigenen Völkern in der Region. Nach reiflicher Reflektion und externer Beratung hatten die ausländischen Mennonitenmissionare in den 50er Jahren die bis dahin eher „zivilisatorische“ Mission, aufgegeben, das Land verkauft, die drei kleinen Gemeinden und ihren eigenen leitenden Status gleich mit losgelassen, um fortan die Selbstwirksamkeit der indigenen Christen zu fördern. Das überzeugende Vorbild erfahrener Teamkollegen ermutigte uns, auf diesem Pfad weiter zu wandern.
Die Enthaltsamkeit des eingeschlagenen Weges führte uns unsere (persönliche und westliche) Begrenztheit vor Augen führte.
Die Indígenas, die wir begleiteten, bauten ihre Kirchengebäude selbst, sie brachten eigene Mittel auf, sie hielten ihre Gottesdienste auf ihre Weise ab, sie ernannten Leiter und Leiterinnen aus ihren Reihen und ihre eigenen „Missionare“ machten sich auf zu benachbarten Chaco-Völkern. Alles, weil eine „Inkulturierung des Evangeliums“ gelungen war. Die Jesus-Nachfolger unter den Indigenen richteten ihr Leben und Handeln am Licht der Bibel und ihrem eigenen Gewissen aus – sie hatten nicht einfach fremde „christliche“ Lebensmaßstäbe und -formen übernommen. Best case! Gott sei Dank!
Und für was waren wir Ausländer dann dort gut? Wir gingen gemeinsam mit ihnen im Licht Gottes, als fremde vertraute Menschen, als Mit-Glaubende, als Zeugen, dass derselbe Auferstandene in unserem und ihrem Leben Erlösung und Neuausrichtung gebracht hatte. Dass uns derselbe Geist in die Wahrheit und Verantwortung führte, wenn wir seine Stimme hörten und bedachten. Und zwar gemeinsam mit den Indigenen. (Nachzulesen in: „Begleiten statt erobern“)
Es wurde ein Weg der Freude – mit Anfechtungen („wenn sie mich fragen, was ich eigentlich mache, habe ich so wenig vorzuweisen“) und Versuchungen („das geht alles viel zu langsam“). Der Weg forderte von uns, ganz auf vertrauensvolle Beziehungen zu bauen, achtsam auf die Gedanken und Initiativen unserer Freunde zu warten, selber begrenzt und bedürftig zu sein, vieles nicht zu wissen und nicht lösen zu können – und Gottes Wirken zuversichtlich zu erwarten und zu erkennen.
Mit diesen Erfahrungen im Gepäck kamen wir 2008 in die OJC zurück. Dort erlebten wir in unserer Kommunität wieder, mit wie viel Respekt, Liebe und Achtung die internationalen Freunde in Reichelsheim willkommen geheißen, auf sie gehört und für sie gebetet wird – und wie sich die FSJler gegen einen Obolus eine Glatze scheren ließen, einen Tag nur Reis aßen oder ihre Dienste als Autowäscher anboten, alles um auch einen finanziellen Beitrag zur Weihnachtsaktion zu leisten.
In diesen Jahren wurden die Kriterien und Leitlinien für die finanzielle Unterstützung der Partner bedacht und geschärft: die Weihnachtsaktion soll keine Abhängigkeiten schaffen, keine Initiative aushebeln, keine Begehrlichkeiten wecken. Unsere eigenen Lernprozesse erkennen wir in denen unserer Gemeinschaft wieder. Es zieht sich wie ein roter Faden durch unser Leben.
Seit 2021 buchstabieren Frank und ich den verletzlichen Weg nochmal von vorne: Ausgesandt durch unsere Kommunität sind wir hier in Gotha/Thüringen Zugezogene aus Hessen, Gäste, die wohl daran tun, lange zu fragen, zu hören. Wir ordnen uns ein in die senfkorn.StadtTEILmission, achten das Gewordene, lernen es kennen, machen mit. In der Theorie. Man sollte meinen, wir hätten etwas Training in dieser Disziplin gehabt. Die Muskelspannung hielt gerade mal vier Wochen. Da hatte ich bereits erste Änderungsvorschläge, rebellierte gegen das Bestehende, hatte reichlich Urteile und Meinungen. Dabei bin ich schon 60. Ist das denn so schwer, nicht zu bestimmen, wie die Dinge laufen sollen? Die eigenen Grenzen und die der anderen anzunehmen? Es nicht so eilig zu haben, sondern warten zu können, bis die Dinge wachsen?
Jetzt nach einem Jahr, einigen überstandenen Konflikten im Team, weitherzigen Kollegen, die uns einiges ausprobieren ließen, schwenken Frank und ich neu ein auf diesen verletzlichen Weg. Er scheint uns derjenige zu sein, der „jesuanische DNA“ enthält (Katharina Haubold). Im Team teilen wir unsere Wünsche, Befürchtungen – und unsere Verirrungen und lernen mit- und voneinander. Wir bitten den Vater im Himmel in jeder Lage. Wieder bauen wir vor allen anderen Dingen oder Veranstaltungen im „senfkorn“ auf Beziehungen und gestalten mit vielen anderen Akteuren das Plattenbauviertel mit. Ich lerne Frauen kennen und nehme ihre Einladungen an. Ich bekehre niemanden, flechte aber gerne in die Gespräche eigene Erfahrungen mit und Geschichten von Jesus ein. Ich bete für meine kranke syrische Freundin und weine beim Tod ihrer Mutter. Mich gruselt, wenn die Mamas den kleinen Jungs die Fernbedienung für riesige Bildschirme in die Hand drücken.
Manchmal gehe ich verstört nach Hause, weil Lebenssituationen so verfahren und verhärtet erscheinen. Ich lächle, wenn sich die Tür öffnet und die kleinen Mädchen der alleinerziehenden afrikanischen Frau rufen: „Grandma came“.
Ich streiche über ihre kunstvoll geflochtenen Zöpfe und esse gemeinsam mit ihnen Fufubrei – mit den Fingern.
Immerzu meine ich den Hauch von Jesu Gegenwart zu spüren. Gott, der unbedingt bei uns Menschen sein wollte und dafür alles hergab.
Ich gehe in seinen Fußspuren und mache so mit bei seiner Mission.
Ute Paul (OJC) zog vor einem Jahr mit ihrem Mann Frank nach Gotha-West, um mit eigenen Augen zu sehen, was Gott so alles aus einem Senfkorn-Glauben machen kann.