Eleonora Muschnikowa – Lebenslänglich Dissidentin
Liebe Eleonora, wir freuen uns, dass du trotz der Kämpfe in der Ukraine aus Russland zu uns reisen konntest. Wie beeinträchtigt der Konflikt euer Leben?
Nach dem Überfall russischer Truppen auf die Ukraine konnte ich nächtelang nicht schlafen. Ich empfinde tiefe Scham für das himmelschreiende Unrecht, das mein Volk unserem Nachbarland antut, und Ohnmacht. Den Gästen aus der Ukraine, die ihr aufgenommen habt, kann ich gar nicht unter die Augen treten. (Sie hat ihnen vor der Abreise einen sehr persönlichen Brief geschrieben. Anm. d. Red.)
Nun ist Krieg in Europa, dabei ist Russlands Westen kulturell Teil Europas.
Wir Russen lieben französische Lieder und unsere Sprache kennt etliche Lehnworte aus dem Deutschen, z. B. Butterbrot. Auch während des Kalten Krieges haben wir nach dem westlichen Ausland geschaut, verbotene Literatur gelesen, um Anschluss an die demokratischen Prozesse zu bekommen. Seit dem Zerfall der Sowjetunion vor dreißig Jahren ist eine europäische Generation herangewachsen, die in Fremdsprachen liest und Nachrichten hört. Durch das Internet ist der Anschluss zu anderen Informationen leicht möglich.
Die Deutsche Peterschule, die du mitgegründet hast, verfolgt ein ambitioniertes, innovatives Bildungsprogramm.
Wir investieren in die Zukunft Russlands. Wir achten auf fundierte Wissensvermittlung und auf liebevolle Zuwendung, um unsere Schüler zu befähigen, nach Werten wie Gerechtigkeit, Wahrheit und Freiheit zu streben. Als unabhängige Schule können wir uns der staatlichen Propaganda entziehen und auch offen mit den Kindern darüber reden, was wir von dem Krieg halten. Schüler, die von der Grundschule in die Gymnasialstufe wechseln, erhalten einen Anstecker mit dem Jesus-Wort: „Du bist Petrus!“ Jeder Einzelne ist ein kleiner Stein im Fundament einer freiheitlichen, demokratischen Gesellschaft. Unsere Hoffnung ist, dass die Absolventen zu Erwachsenen heranreifen, die unser Land mit aufbauen.
In dir haben sie ein wunderbares Vorbild, denn du bist dir und deiner Berufung über alle Schwierigkeiten hinweg treu geblieben. Woher nimmst du dafür die Kraft?
Unsere Gaben bekommen wir alle von Gott. Und die Kraft dazu aus dem Glauben. Ohne Glauben ergibt das Leben keinen Sinn: Glauben und Verstehen gehören zusammen. In der Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden tanke ich Freude und Kraft für die Aufgaben.
Du könntest es dir als Rentnerin leichter machen und zum Beispiel emigrieren.
Es wäre natürlich schön, in der guten Atmosphäre mit Glaubensgeschwistern und Freunden wie euch zu leben. Aber ich gehöre zu meinem russischen Volk, im Guten und im Schweren. Solidarisch sein heißt auch, die Verantwortung zu teilen und zu tragen. Außerdem habe ich noch viel Dringendes zu tun, in Sankt Petersburg werde ich gebraucht. Und dort ist meine Familie, sind die Enkel.
Wir haben entsetzt zur Kenntnis genommen, dass der Patriarch der orthodoxen Kirche Russlands den Krieg gutheißt. Kennst du den Grund dafür?
Ich selbst bin evangelisch, habe aber in meiner Wohnung einige Ikonen und bin eng mit orthodoxen Freunden verbunden. Die orthodoxe Kirche ist groß. Weite Teile der Geistlichkeit und des Kirchenvolkes sind dem Evangelium treu. Es gibt aber eine ungute Vermengung der Kirchenhierarchie mit der staatlichen Macht. Das Patriarchat und der Patriarch lassen sich als die ideologische Abteilung des Kremls benutzen. Manche Gemeinden und Priester distanzieren sich davon und protestieren ohne Angst gegen den Krieg. Kurz vor meiner Abreise habe ich von dreien gelesen.
Wie hat der christliche Glaube die atheistische Ideologie des Kommunismus überstanden?
80 Jahre lang waren in unserem Land Bibeln verboten und Kirchen geschlossen. Viele Christen haben ein Doppelleben geführt: draußen plapperten sie die Propaganda nach, zuhause hatten sie noch Ikonen. Das hat Spuren hinterlassen, das geistige Leben in Russland ist in einem schlechten Zustand. Der Umgang mit Lügen traumatisiert, korrumpiert das Denken und es wird zunehmend schwerer, klar zu sehen und ehrlich zu reden. Diese Not ist viel größer als die materielle, die wir durch die Sanktionen erleiden. Die Spaltung der Gesellschaft, die Unfähigkeit zum Dialog und die Unversöhnlichkeit sind zerstörerisch.
Du hast dich schon immer, seit deiner Jugend, als Dissidentin verstanden – im Dissens zur Macht.
Spielst du auf meinen rebellischen Charakter an?! Ich bin im Gulag geboren, als Kind von Dissidenten, die sich ein Leben lang, bis zum Tode, für Gerechtigkeit eingesetzt haben und daran glaubten, dass in Russland irgendwann ein Leben in Freiheit und Normalität möglich sein wird. Als Studentin habe ich mit Kommilitonen und Freunden auf diese Zeitenwende hingelebt: Wir haben illegale Samisdat-Literatur besorgt, zensierte Schriften auf Parkbänken ausgelegt. Die Wende, die mit Perestroika begann, war die beste Zeit meines Lebens, die bis über die Jahrtausendwende währte.
Mit dem Krieg gegen Georgien 2008 setzte eine große Enttäuschung ein: Wir sahen, dass sich die Gesellschaft in eine falsche Richtung entwickelte und dass sich die alten, verkrusteten und korrupten Strukturen und Netzwerke in Politik, Militär und Geheimdienst in die neue Zeit hinübergerettet hatten. Diese haben eine ganz andere Agenda als wir. Heute will uns die Propaganda weismachen, wir wären umzingelt von Feinden, aber in Wirklichkeit sind sie selbst eine Bedrohung für unser friedliches Leben. Wir leben in einem Meer von Lügen.
Seit 30 Jahren kümmerst du dich um Waisen und Straßenkinder in Sankt Petersburg, für die sonst niemand ein Herz hatte.
Glücklicherweise habe ich einen engagierten Freundeskreis, ohne den ich diese Arbeit weder körperlich, noch finanziell, noch emotional bewältigen könnte. Ich erlebe auch, dass Menschen gerne helfen, wenn sie dazu angeregt werden. Wenn wir Kleidung und Lebensmittel an Straßenkinder austeilen, dauert es oft nicht lange, bis auch Passanten oder Nachbarn etwas beisteuern. Auch einige Absolventen der Peterschule engagieren sich für Straßen- und Waisenkinder. Sie sind meine Hoffnung für die Zukunft, der Geist der Schule wirkt weiter.
Was können wir in Deutschland zu dieser Zukunft beisteuern? Und was dürfen wir hoffen?
Glaubt bitte nicht, dass alle Russen diesen schrecklichen Krieg befürworten! Das Wichtigste, das ihr tun könnt, ist, für den Frieden zu beten. Bitte betet für die Ukraine, betet für Russland! Ich weiß genau, dass Beten hilft. Ich habe in meinem Leben so viele Wunder erlebt. Gott hat Unmögliches möglich gemacht, auf ihn setze ich meine Hoffnung. Auch die Straßenkinder wissen, dass Menschen im fernen Deutschland an sie denken und für sie beten – das bedeutet ihnen viel. Wie auch mir und meinen Kollegen. Lasst uns im Gebet füreinander verbunden bleiben. Der Krieg hat nie das letzte Wort!
Anmerkungen:
Eleonora Muschnikowa und die OJC
Erste Begegnung: 1992 bei einem Baucamp zur Unterstützung der Gemeinde von Vater Alexander in Wsewoloschsk.
Gründerin des privaten Gymnasiums Deutsche Peterschule in St. Petersburg (1990) für 500 Schüler.
Leiterin des religionspädagogischen Comenius-Instituts, das jedes Jahr ein bis drei religionspädagogische Bücher für die Lehrerfortbildung veröffentlicht.
Seit 30 Jahren kümmert sie sich um Straßenkinder, sorgt für medizinische Versorgung, Nahrung und Kleidung.
Gründerin mehrerer Kinderheime für Waisen und Straßenkinder, eines davon in Woijekowo (nahe St. Petersburg), wo die OJC bei einem Baucamp 2004 mit dem FSJ-Team einen Spielplatz gebaut und die Begegnung mit jungen Russen ermöglicht hat.
Die OJC und die ojcos-stiftung unterstützen ihre Projekte seit 30 Jahren.