Buntes Gemälde eines Bischofs an einer blauen Hauswand

Mehr als erste Hilfe

Was den Samariter von den Frommen unterscheidet

Die entscheidende Frage beim Teilen ist: geben wir uns selbst, bevor wir etwas geben? Wir leben in einer Welt, in der jeder sich bewahren und absichern will. Der persönliche Erfolg zählt, das Geld und alles, was die Konsumgesellschaft so zu bieten hat. Warum sollten wir darauf verzichten? Warum sollten wir teilen und anders leben als alle anderen? Warum sollten wir uns aufopfern, wenn jeder sich heute selbst behauptet? Es gibt nur eine einzige Antwort darauf: Weil Gott selber sich gegeben hat, weil Christus sich uns gegeben hat und weil wir als seine Nachfolger es ihm gleichtun sollen. Teilen ist Gottes Spezialität. Der Abschnitt 1 Joh 4, 7–12, ein Aufruf zur Liebe, entfaltet das:

Ihr Lieben, lasst uns einander lieb haben; denn die Liebe ist von Gott […] Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist die Liebe. Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen eingebornen Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen. […] Ihr Lieben, hat uns Gott so geliebt, so sollen wir uns auch untereinander lieben. Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollkommen.

Kann man das überhaupt – zur Liebe aufrufen? Dreimal ja!

1. Die Liebe kommt von Gott

Er ist die Quelle der Liebe. Wir sind ihm insoweit ähnlich, wie wir fähig zur Liebe sind. Ich mag es, wenn Leute mir sagen, meine Kinder seien „ganz der Vater“ – jedenfalls, wenn sie damit meine positiven Seiten meinen. Wir sollen das Abbild Gottes in uns so ausformen, dass sein Geist in uns wiedererkannt werden kann.
Teilen ist eine Frucht der Liebe und überhaupt nur durch die Liebe möglich. Es geht nicht um die Frage, was oder wie viel ich gebe, sondern ob ich mich gebe, wenn ich gebe. Das unterscheidet die christliche Liebe von jeder anderen Form der Liebe. C.S. Lewis spricht von vier Arten der Liebe: Eros, Storge, Philia und Agape, die Liebe, mit der Gott liebt, die sich selbst gibt. In der Bibel geht es meistens um Agape. Diese Liebe sollen wir füreinander haben, nicht nur in der christlichen Gemeinde, sondern selbst den Feinden gegenüber. Diese Liebe befähigt uns zur Hingabe. Sie fragt nach dem Wohl des anderen und ist bereit, Opfer für den anderen zu bringen.
Das Schwerste für den Heiligen Geist ist es, uns das Lieben beizubringen. Aber das ist Gottes Herzensanliegen.

2. Gott zeigt seine Liebe durch Christus

Er hat uns Jesus gegeben, in ihm die Sünde entmachtet und damit den Weg freigemacht, damit wir lieben können.
Manchmal fragen wir, wo denn der Gott der Liebe ist in dieser ungerechten und ausbeuterischen Welt? Aber Gott hat seine Liebe gerade dadurch gezeigt, dass er seinen Sohn in die Welt gesandt hat, in eine Welt des Leidens! Um wie viel mehr sollten wir bereit sein, uns senden zu lassen.

3. Gott wird in unserer Liebe sichtbar

Menschen fragten zu allen Zeiten: Wo ist denn euer Gott? Niemand hat Gott je gesehen. Aber wenn wir einander lieben, wird Gott für andere sichtbar. Wir machen mit unserer Liebe den unsichtbaren Gott sichtbar. Die meisten Menschen bekehren sich nicht zum Christentum, weil es die besseren Argumente hat, sondern weil Gott ihnen in anderen Menschen begegnet ist.
Die Frage der Unsichtbarkeit Gottes ist auch ein Thema im Alten Testament. Mose bittet Gott: Lass mich deine Herrlichkeit sehen! Aber Gott antwortet ihm: Du kannst mein Angesicht nicht sehen. Mose darf ihn aber von hinten sehen. Wir können Gott nur indirekt sehen.
Auch das Neue Testament sagt uns das. Die Jünger bitten Jesus: Zeige uns den Vater! Und der Johannesprolog bezeugt: Das Wort ward Fleisch und lebte unter uns und wir sahen seine Herrlichkeit. Der unsichtbare Gott wurde für uns Menschen sichtbar in Jesus Christus. Wenn jemand wissen möchte, wie Gott aussieht und wie er ist, muss er Jesus betrachten.

Kike oder Gottes Liebesschule

In unserer mittelständischen Gemeinde haben wir seit einigen Jahren mit Drogensüchtigen zu tun. Wir haben uns das nicht ausgesucht, aber Gott wollte uns etwas beibringen: dass seine Kirche für Sünder da ist. Es war sein Weg, uns das Lieben zu lehren. Dazu gebrauchte er Kike.
Kike nahm Drogen seit er 12 war. Er lebte auf der Straße. Eines Tages wurde er von Jugendlichen aus unserer Gemeinde in den Gottesdienst eingeladen. Er nutzte jede Gelegenheit, um mit ihnen in Kontakt zu kommen. Trotzdem nahm er weiterhin Drogen und lebte sein altes Leben weiter. Nach einem Streit kam er ins Gefängnis. Dort besuchten ihn die Jugendlichen, brachten ihm Essen, sprachen ihm Mut zu. Als Kike aus dem Gefängnis kam, wurde er Christ. Er sagte später: „In der Kirche habe ich nie kapiert, worum es ging, ich habe nur gespürt, die Menschen akzeptieren mich, ich bin willkommen.“ Nach und nach verstand er, dass das wirkliche Liebe ist. Liebe verändert einen Menschen.
Echtes Teilen ist motiviert von der Liebe, sie inspiriert zu großmütiger Hingabe. Wir werden von der Schrift angehalten, Gott zu lieben mit allen unseren Kräften und unseren Nächsten ebenso. Diese beiden Gebote gehören eng zusammen. Es gibt keine wahre Liebe zu Gott, die nicht auch eine Liebe zum Nächsten wird. Wenn wir den Nächsten, den wir sehen, nicht lieben, wie sollten wir Gott lieben, den wir nicht sehen? Das veranschaulicht Jesus am Gleichnis vom barmherzigen Samariter in Lukas 10.

„Es jammerte ihn“

Alle drei Passanten sahen den Verwundeten am Straßenrand liegen. Aber nur von einem heißt es: Es jammerte ihn. Das, was er sah, rührte ihn zutiefst an. Spontan unterbrach er seine ursprünglichen Reisepläne und versorgte das Opfer.
Ein Hauptproblem, mit dem wir es heute zu tun haben, ist der Mangel an Mitgefühl. Im Gleichnis ist das der Schlüssel: die beiden religiösen Menschen haben den Verwundeten auch bemerkt, aber nicht reagiert. Ausgerechnet der „Ungläubige“ hat Mitleid mit ihm. Er lässt sich nahegehen, was er sieht. Er macht die Not des Verletzten zu seiner Not.
Im Englischen gibt es die Begriffe compassion und pity für Mitleid, wobei compassion weit mehr bedeutet. Im Griechischen wird dieses Wort sonst nur in Bezug auf Jesus gebraucht. Es meint ein Ergriffensein, das von tief innen kommt und zur Identifikation führt.
Ein anderes Übersetzungsdetail bestätigt das. Als der Samariter den Verwundeten dem Gastwirt übergibt, sagt er zu ihm: „Sieh nach ihm…!“ Aber das ist zu schwach übersetzt. In der spanischen Übersetzung steht es korrekter: „Kümmere dich so um ihn, als sei ich es.“ Er identifiziert sich mit ihm! Es geht ihm nicht um Erste Hilfe, sondern um die vollkommene Wiederherstellung des Opfers.
Auch wir sind dazu aufgefordert, Menschen zu helfen, dass sie ganz wiederhergestellt werden – in allen Bezügen ihres Lebens.
Die Bereitschaft zu teilen ist in Gottes Liebe zu uns verwurzelt, dahin müssen wir immer wieder zurückkommen. Die Kirche ist der Ort, wo das praktisch wird; in der Gemeinschaft lernen wir, einander anzunehmen, zu lieben und uns zu geben. Wir glauben fest daran, dass da, wo in einer Gemeinde Freundschaft und Zugehörigkeit gelebt und angeboten werden, Heilung stattfindet. Das Erleben von geistlicher Heimat ist zentral für die Wiederherstellung von Menschen. Liebe ist etwas, das wir ständig empfangen, aber auch etwas, das weiterfließen soll.
Ein Schwerpunkt unserer Arbeit in Buenos Aires ist es, Gemeinden instand zu setzen, die Nöte ihrer Umgebung wahrzunehmen und ihnen zu begegnen, anstatt nur auf sich selbst zu schauen. Eine Übung, die zu unserem Programm gehört, ist, auf die Straße zu gehen und die Leute aus dem jeweiligen Viertel nach ihren Nöten zu fragen, was sie brauchen, was sie sich an Veränderung wünschen.

Das Herzstück des Evangeliums

Jesus vermittelt die Werte und Grundhaltungen des Reiches Gottes durch Geschichten und durch sein Vorbild. Die Fußwaschung (Joh 13) ist so ein Beispiel. Was bedeutet sie für uns heute? Und was hindert uns, diesem Beispiel zu folgen?
Viele denken, Jesus habe mit der Fußwaschung einen neuen Ritus eingeführt. Einmal im Jahr wäscht sogar der Papst die Füße von Menschen aus dem Volk. Aber Jesus wollte kein neues Ritual etablieren, sondern einen neuen Lebensstil.
Jesus wusste genau, wer er war: Ihr nennt mich Meister und Herr – richtig so. Jesus jedoch hat auf das Privileg der Gottessohnschaft verzichtet und sich zum Diener gemacht. Er war der Dienerkönig. Das ist das Herzstück des Evangeliums. Jesus als König ist kein Eroberer, sondern einer, der sich selbst erniedrigt und anderen gedient hat (Phil 2).
Wissen wir, wer wir sind? Woher beziehen wir unsere Identität? Erst das Wissen um unsere Identität gibt uns die Kraft zum Dienst, zur Selbsthingabe. Die Gesellschaft gibt uns eine ganz eigene Antwort darauf: durch Karriere, Schönheit und Reichtum erlangen wir Einfluss und „sind wer“. Die einzige Möglichkeit, aus diesem Denken herauszukommen, ist das Wissen, dass wir Gotteskinder sind. Das ermöglicht uns auch eine neue Beziehung zu den Dingen, zur Schöpfung. Wir müssen keinem etwas beweisen. Wir sind schon wer, wir brauchen nicht unendlich viele Dinge zu besitzen, um jemand zu sein. Wir können sie aber einsetzen, um anderen damit Gutes zu tun.
Ich höre oft, dass gelehrt wird, es wäre gefährlich, als Christ Besitz zu haben. Wenn wir Geld und Besitz einsetzen, um Macht auszuüben, ist das tatsächlich gefährlich.
Bei Johannes heißt es, Gott gab uns seinen Sohn, damit er sein Leben für uns lasse. Warum? Weil er diese Welt liebte. Die ethische Konsequenz daraus finden wir in 1 Joh 3,16–17: Daran haben wir die Liebe erkannt, dass er sein Leben für uns gelassen hat; und wir sollen auch das Leben für die Brüder lassen. Wenn aber jemand dieser Welt Güter hat und sieht seinen Bruder darben und schließt sein Herz vor ihm zu, wie bleibt dann die Liebe Gottes in ihm? Hier wird ein ganz neuer Bezug zwischen dem Tod Jesu und unserem materiellen Besitz hergestellt.
Güter sind einzig dazu da, Leid zu lindern und Grundbedürfnisse zu befriedigen. Das ist ganz materiell gedacht – dient aber den Menschen und verherrlicht Gott, wenn es aus Liebe, Dankbarkeit und Solidarität geschieht. Das Evangelium zeigt uns die soziale Dimension des Geldes auf und fordert uns heraus, uns als Haushalter von Gottes Eigentum zu verstehen.
Unsere Liebe ist die Erwiderung auf Gottes Liebe zu uns. Sie ermöglicht uns eine neue Beziehung auch zu materiellem Besitz.

Unsere Verantwortung

Es gibt immer viel mehr Nöte um uns herum als wir lindern können. Das kann uns entmutigen oder sogar zynisch machen. Was sollen wir tun, was lassen?
Epheser 2,1–10 – ein zentraler Gedanke der Reformation – gibt uns da einen Anhaltspunkt: Erlösung geschieht durch Gnade in Christus allein. Sie ist ein freies Geschenk und der Glaube allein ist der Weg, an ihr teilzuhaben. Wir können und müssen uns unsere Erlösung nicht erringen. Das gilt! Aber Vers 10 darf nicht überlesen werden: Denn wir sind sein Werk … geschaffen zu guten Werken, dass wir darin wandeln sollen.
Das heißt, wir sind nicht DURCH unsere guten Werke erlöst, sondern ZU guten Werken, die Gott zuvor bereitet hat, damit wir sie auch als unsere Aufgabe annehmen. Ich soll nicht alles tun, sondern das, was Gott für mich bereitet hat. Hier ist Unterscheidung gefordert. Die Herausforderung ist, dass wir offen bleiben für den Geist, der uns zeigt, was wir zu tun haben und welches Werk Gott nicht für uns vorgesehen hat.
Ich hatte oft die Vorstellung, ich könnte dieses oder jenes und noch mehr tun, musste aber erkennen, dass ich ein sehr begrenzter Mensch bin. Gott erwartet nicht, dass wir alles tun.
Wir sind gerufen, Gottes Mitarbeiter zu sein, um in der Welt mit ihm zusammenzuwirken und danach zu trachten, die Beziehungen, die Politik, die Ökonomie in seinem Sinne mit- und umzugestalten. Wir dienen Gott, indem wir dem Nächsten dienen mit allem, was wir sind und haben: Reichtum, Wissen, Gaben, Gesundheit etc. Alles, was Gott uns geschenkt hat, können wir in seinem Sinn einsetzen – zum Wohl der Menschen und zur Ehre unseres Gottes.

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