Das Missverständnis ist das Normale

Das Missverständnis ist das Normale

Wie wir dem Bindungsschmerz begegnen

LIVE e.V. besteht nun seit über 10 Jahren, mit Beratungs- und Seelsorgeangeboten für Menschen, die sich nach Wachstum und Reifung in ihrer Identität als Kinder Gottes sehnen, ihre Berufung klären oder sich drängenden Lebensfragen stellen wollen.

Írisz Sipos: Tobias, Karsten – ihr bietet Einzelbegleitung und Seminare. Ihr seid aber nicht nur Dienstleister, sondern von Beginn an als Gemeinschaft organisiert. Wie viele gehören zu euch?

Tobias Mock: Der Kern der Gemeinschaft ist die Lebensgemeinschaft von sechs Erwachsenen. Gefunden haben wir uns über die Zweierschaft von Karsten und mir. Zunächst waren wir als zwei Ehepaare unterwegs, im Lauf der Zeit sind zwei Ledige dazu gekommen. Um diesen Kern gibt es „die Gefährten“, die die Arbeit haupt- oder ehrenamtlich mittragen und mit denen wir regelmäßig unterwegs sind. Eine bunte, überkonfessionelle Mischung mit einer Altersspanne von 41 bis 81 Jahren. Wir treffen uns zwei- bis dreimal im Monat, in der Regel sonntags.

Da gibt es sicher unterschiedliche Bedürfnisse nach Nähe und Distanz und nach Dichte der Treffen.

Karsten Sewing: Ja, das ist schon individuell unterschiedlich gelagert. Und es gibt auch Unterschiede, was die Stände anbelangt. Für die Ledigen stellt sich die Frage, ob und inwiefern sie dazugehören sicherlich noch einmal anders und in anderer Dringlichkeit als für Paare und Familien. Da ist in den letzten Jahren etwas Beruhigung eingetreten, ich kann mir aber vorstellen, dass das in unterschiedlichen Lebensphasen immer wieder auftaucht.

Tobias: Die Frage, wo mein Platz in diesem Miteinander ist, beschäftigt Einzelne zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich intensiv. Wenn jemand sie explizit stellt, dann geben wir schon unmissverständlich zu verstehen: Du gehörst dazu! Meist wird das aber so gar nicht ausgesprochen, sondern klärt sich im gemeinsamen Unterwegssein. Oder sie kann unvermittelt auftauchen, etwa, wenn jemand den Eindruck bekommt, aus gewissen Erfahrungen und Erlebnissen, die die anderen teilen, ausgeschlossen zu sein. Darauf gehen wir dann ein.

Was ist für euch ausschlaggebend, wenn sich Menschen LIVE e.V. annähern möchten?

Karsten: Wenn jemand neu zu uns kommt, darf er erstmal einfach nur da sein. Und zwar nicht nur für vier Wochen, sondern vielleicht für ein Jahr. Manche sind irritiert, weil sie meinen, doch irgendwas tun zu müssen. Das ist sicher ein universelles Thema, aber in Deutschland scheint Leistung ein besonders markanter Antreiber zu sein, wie ein Ticket, mit dem viele von uns diesen Anspruch auf Zugehörigkeit lösen. Auch innerhalb der Gemeinschaft taucht die Frage auf: Tue ich eigentlich genug? Für die meisten ist es ungewohnt, wenn wir ihnen sagen, schön, dass du da bist, du gehörst dazu! Unabhängig von dem, was du leistest. Das Engagement, das Tun darf dann aus dem fließen, wenn du eine Sicherheit und Freude hast.

Zugehörigkeit ist also ein Prozess. Es scheint beides zu brauchen: klares Commitment, den definitiven Zuspruch. Aber auch das Atmosphärische, den Raum, in dem nicht gleich alles definiert ist. Wie haltet ihr die Balance?

Tobias: Uns geht es bei den Orientierungsgesprächen mit Menschen, die sich annähern wollen, vor allem darum, miteinander in Kontakt zu kommen, einander zu erspüren. Zum einen die Persönlichkeit, aber auch innere Haltungen. Darum geht es viel mehr als um Kompetenzen, die die Einzelnen mitbringen, oder „mein Haus, meine Familie, mein Auto“. Wir fragen nach den Lebensthemen, die wir teilen können. Worin können wir einander Gegenüber werden? Was dockt bei uns an? Diese Annäherung ist ein gegenseitiges Geschehen, ein Sich-Stützen, Miteinander -unterwegs-Sein. Für die, die dazukommen, sicher auch ein Prozess der Selbsterfahrung und Klärung.

Aber auch die Gruppe, die integriert, wird sich mit jedem Neuzugang verändern. Wie ein Mobile, an das ein neues Element gehängt wird. Wie geht ihr damit um?

Karsten: Gute Frage. Ich denke, dass unterschiedliche Typen da sehr unterschiedlich reagieren. In den Anfangsjahren hat jede Anfrage Verunsicherung ausgelöst. Für die Neugierigen unter uns war das eher willkommen, die Vorsichtigen, die eher Beständigkeit suchen, brauchten mehr Zeit. Das Gefühl, schön, dass wir einander haben, wird natürlich erheblich beeinträchtigt. Wichtig ist, begründete Vorbehalte ernstzunehmen, aber doch auch ins Neue zu locken. Wenn wir uns einigeln, können wir nicht wachstümlich bleiben, im schlimmsten Fall stirbt eine Gemeinschaft. Wir nehmen aber auch nicht unbegrenzt auf, sondern öffnen uns und schließen uns vorübergehend wieder, um miteinander einen Weg zu gehen und uns aneinander zu gewöhnen.

Tobias: Das läuft sicher zyklisch und jedes Mal ein bisschen anders. Wir haben zwar schon Erfahrung und Sicherheit gewonnen, aber die Annäherung wird immer ein Wagnis bleiben, und deshalb ist es wichtig, das unter uns immer wieder anzusprechen – einzeln oder auch als Gruppe.

Die Sehnsucht, erkannt zu werden, Zugehörigkeit zu finden, ist ein menschliches Urbedürfnis. Wie geht es denen, die eure Angebote wahrnehmen?

Tobias: Wir spüren eine wachsende Not durch die Krisen der Zeit, sei es Klima, Krieg oder Pandemie. Weniger bei denen, die nur einen flüchtigen Kontakt, oberflächlichen Austausch auf Smalltalkebene suchen, sondern bei denen, mit denen wir kontinuierlich unterwegs sind oder im Beratungskontext stehen, auch online. Verbundenheit entsteht ja in unterschiedlichster Form.

Karsten: Viele bringen Fragen im Bindungsgeschehen mit. Während der Pandemie haben manche gar nicht wahrgenommen, dass es ihnen schlechter geht, nur wir haben gemerkt, dass sie sich rückwärts entwickeln! Sich abgeschnitten zu fühlen ist für sie völlig normal, sie kennen es nicht anders. Manche können formulieren, dass sie an Angst und Einsamkeit leiden, andere haben mit Suchtproblemen zu kämpfen, mit selbstverletzendem Verhalten, Depressionen oder Ängsten. Menschen in intakten Beziehungen – Betonung auf intakt – bewältigen diese Zeiten sicher leichter als die, die eher auf sich gestellt sind.

Was sind mögliche Ursachen für eine eher schwache Resilienz?

Tobias: Menschen, die eine innere Stabilität mitbringen, im Bindungskontext gut unterwegs sind, kommen grundsätzlich besser durch Krisen. Aber wer schon in der Vergangenheit einen Mangel erlebt hat, ist wesentlich stärker und schneller betroffen. Mit Mangel meine ich Verletzungen oder Dinge, die in der Kindheit und Jugend passiert oder eben nicht passiert sind. Mangelerfahrungen im Sinne von keiner, bzw. einer eingeschränkten oder bedingten Bindung zu den Eltern. Oder wenn elterliche Liebe nur gegen Leistung gewährt wurde. Im schlimmsten Fall war da Bindungsentzug oder emotionaler Missbrauch. Das alles kann dazu geführt haben, dass die Fähigkeit zu vertrauen bei Kindern und Jugendlichen zerstört wurde.

Wie ist die Prognose bei tiefliegenden dysfunktionalen Mustern? Gibt es Hoffnung?

Karsten: Je früher die Verletzungen oder die Mangelerfahrung, desto tiefgreifender ist der Bindungsschmerz. Es gibt verlässliche Zahlen darüber, dass dies auf fast jeden Zweiten in Deutschland zutrifft. Der schmerzlich erlebte oder verwehrte Wunsch, einen Platz, innerlich eine Heimat zu haben, geliebt zu sein – das rührt meist von sehr tief sitzenden Bindungsverletzungen, die entsprechend zäh und nur langwierig zu bearbeiten sind.

Würdet ihr sagen, dass Gemeinschaft ein Therapeutikum ist?

Beide: Ja. Auf jeden Fall!
Karsten: Das ist uns besonders wichtig. Wir sind keine distanzierten Therapeuten, wir arbeiten stark über die Bindungs- und Präsenzebene. Bei uns kann man ausgleichende, gute Erfahrungen machen. „Ich bin wichtig, ich bin angenommen. Ich werde nicht zurückgestoßen, wenn ich mich mal komisch verhalte.“ Manche testen richtig aus, wie weit sie gehen können, und sie dürfen immer wieder die Erfahrung machen, wir halten dich aus, wir gehen nicht weg. Diese urmenschliche Sehnsucht ist so stark und gleichzeitig so schwer zu beantworten. Eine Entwicklung ist möglich, ohne Frage, aber es braucht viel Geduld und Zeit.

Wie bietet man Menschen eine Landefläche, die nach Zugehörigkeit hungern?

Tobias: Es gibt Menschen, die ziehen andere von sich aus schon an, sie leben intuitiv Gastfreundschaft, sie haben einfach dieses Charisma. Andere, vielleicht die meisten, müssen ganz bewusst die Entscheidung treffen: Ich will mit anderen in Kontakt treten. Und zwar nicht nur um meinetwillen. Das ist der Perspektivwechsel, auf den es ankommt.

Karsten: Von der OJC haben wir gelernt, dass wir die Leute ihre Lebensgeschichte auch in der Runde erzählen lassen. An einem Stück, ganz wie sie sich und ihre Biographie von innen her sehen. Wir hören immer wieder Sätze wie: „Das habe ich noch niemandem erzählt.“ Die Leute sind so berührt davon, wie viel Nähe durch authentische Selbstmitteilung und durch Zuhören in kurzer Zeit möglich ist. Dabei ist uns wichtig, dass wir das Gehörte nicht kommentieren, sondern einfach stehenlassen und uns im Gegenzug fürs Erzählen bedanken.

Wir nehmen uns gerne vor, für andere da zu sein. Sobald wir uns aber verletzlich machen, wird es brenzlig. Oft scheitern wir schon in der ersten Kurve. Wie schafft ihr es, dranzubleiben und nicht in die Distanz zu flüchten?

Karsten: Wer sagt, er möchte ein Herz für andere haben, sollte sich klar darüber sein, dass er nicht der Retter dieser Welt ist. In unseren Räumen stehen kleine Glasteelichter mit Glasnuggets. Wenn mir ein Gespräch mit jemandem nachgeht, nehme ich mir oft ein Glasnugget und bringe es zum Kreuz im großen Saal – buchstäblich zu Jesus. Als Zeichen, als Symbol: Jesus, du musst dich um diesen Menschen, um diese Dinge kümmern! Wir müssen lernen zu verstehen, dass wir diese Sehnsucht nach Beziehung nie so stillen können, wie derjenige das ersehnt und braucht. Jesus aber schon. Mir hilft es, mich daran zu erinnern und mir das immer wieder klarmachen, Retter dieser Welt ist nur Einer.

Wie geht ihr mit unterschiedlichen Erwartungen um?

Tobias: Im Büro haben wir einen Spruch hängen, „Das Missverständnis ist das Normale“. Wir gehen irrtümlicherweise in der Regel davon aus, dass Missverständnisse nicht normal sind, wir rechnen nicht mit ihnen und sind entsprechend fassungslos, wenn sie dann doch eintreten. Wenn wir aber davon ausgehen, dass Missverständnisse sein dürfen, ist ein barmherziger Umgang miteinander besser möglich.

Tobias, Karsten – danke für eure Offenheit und das Gespräch.

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