Kränkung garantiert
Ich sitze mal wieder in einer Vorstellungsrunde mit einer Besuchergruppe und höre meinen OJC-Gefährten zu, was jeder von sich erzählt: Beruf, kirchliche Prägung, seit wann es uns aus welchem Grund in die Gemeinschaft gezogen hat, warum wir geblieben sind, was unsere Freuden in der Lebensgemeinschaft sind, was unsere Schwierigkeiten.
Dabei erfasst mich unvermittelt ein wohliges Schaudern, ein Kloß im Hals, das Gehörte rührt mich an. – Immer wieder ergreift mich Ehrfurcht und Staunen, dass wir all die Jahre beieinandergeblieben sind! Dass eine so unterschiedliche Truppe, die sich gegenseitig nie ausgesucht hätte, langfristig und friedlich zusammenleben kann, um die Aufgaben der Gemeinschaft gemeinsam auszuführen und zu gestalten. Oft werden wir im Gespräch mit anderen Werken und von Gästen gefragt: Wie macht Ihr das? Wie gelingt in aller Unterschiedlichkeit und Empfindsamkeit das Miteinander, ohne dass es zum Gegeneinander wird? Wie kann echte Harmonie und Wohlwollen gelingen?
Einer der kernigen Merksätze von Horst-Klaus Hofmann war: „Die Probleme liegen meist nicht auf dem Tisch, sondern sitzen um den Tisch.“
Das hatte ich öfter erlebt: Man gerät immer mal wieder bei Team-Gesprächen in überraschend explosive Kommunikationsabläufe. Die Atmosphäre ist plötzlich aufgeladen. Gereiztes Hin und Her, mehr Schlagabtausch als Gespräch. Sachlich nicht mehr zu bewältigen. An was liegt das? „Gemeinschaft ist ein Sehnsuchts-und Kränkungsort zugleich“ (Konstantin Mascher).
Als ich in den 1990er Jahren in die OJC kam, begegnete ich bei mir selber einer immer gleichen Empfindlichkeit: Wenn mir ein Fehler unterlaufen war, empfand ich das unendlich peinlich und unentschuldbar. Also stritt ich den Fehler entweder ab oder „erklärte ihn weg“, rechtfertigte mich mit Erklärungen. Betraf der Fehler jemand anderen, hatte meinetwegen jemand eine Einladung nicht erhalten oder sonst einen Schaden erlitten, war das nahezu unüberlebbar für mich. – In Seelsorge-Gesprächen bin ich diesem unangenehmen Charakterzug nachgegangen: Woher kommt das? Was war mir widerfahren, dass es existentiell wurde, wenn ich – völlig menschlich! – mit eigenem Versagen konfrontiert war? Ich begegnete lebensgeschichtlichen, frühkindlichen Prägungen und Erlebnissen, die dieses reflexhafte Verhalten in mir auslösten, welches mir und anderen das Zusammenleben und -arbeiten erschwerte. Heilsam war die Erkenntnis:
Dieser Festlegung „Ich-muss-perfekt-und-immer-Teil-der-Lösung-nie-Teil-des-Problem-sein“ bin ich nicht hilflos ausgeliefert! Es gibt einen Weg der Veränderung, ich kann ein neues Denken, ein neues Verhalten einüben. Lebenswunden können im Licht der Liebe Gottes heilen!
Eine gute Freundin, die sich bestechend aufrichtig entschuldigen konnte, half mir beim Üben: Sag als Entschuldigung nur einen Satz. „Es tut mir leid, dass ich vorhin so unbeherrscht und unfreundlich reagiert habe.“ Dabei hätte ich so viele Sätze in mir parat gehabt, die genau erklären könnten, warum das alles so gekommen ist. Sie half mir beim Suchen der richtigen Worte, die mein Verhalten ungeschönt und treffend wiedergaben. „Keine weiteren Erklärungen anfügen!“ – Im Lauf der Zeit wurde ich sicherer, ertappte mich auch schneller, wenn ich in alte Abwehrmechanismen fiel und erlebte das beglückende Gefühl von bereinigten Beziehungen. – Ich erinnere mich an eine Besprechung mit einer OJC-Gefährtin, die ich mit einer Entschuldigung für mein vorwurfsvolles und aufbrausendes Verhalten begonnen hatte. Wie leicht war danach unsere weitere Planung vorangegangen, wie vertraut unser Umgang, wie befriedet meine Seele! Da war ich schon über zehn Jahre in der Kommunität und realisierte, dass etwas tatsächlich anders geworden war, und ich empfand das als große Erleichterung.
Von Eva-Maria Admiral haben wir im Seminar „Die Macht der Kränkung und die Ressourcen zur Heilung“ einen Merksatz gehört: Nicht ‚what is your problem?‘ fragen, sondern ‚what happened to you?‘ Das ist für jeden persönlich eine hilfreiche Fragestellung, die zur eigenen Klärung helfen kann. Was ist bei mir los, dass ich mit solchen Gefühlen und Nöten, einem starken Ärger konfrontiert bin?
Besonders in engem Zusammenleben oder -arbeiten treffen wir auf Persönlichkeiten, die in uns schwierige emotionale Reaktionen auslösen, uns an jemanden erinnern oder uns mit ihren Stärken beängstigen. Bliebe das unreflektiert und unbearbeitet, würden daraus zahlreiche Konflikte entstehen. In der OJC spüren wir die Reibungen bald, und reflektiert und sprachfähig wie wir sind, sprechen wir das an und suchen zu klären. Doch man kommt rasch an eine Grenze: „Der andere ist so, wie er heißt – anders!“ (Lukas Möller) Akzeptanz, Stehen-Lassen ist gefragt, den Anderen nicht bewerten, nicht abwerten.
Ich horchte auf, als mir eine Freundin von ihrem neuen Chef in einem christlichen Werk berichtete, der am Ende eines Personalgesprächs sagte: „Ich kümmere mich gerne um deine Anliegen zur Arbeitsplatzorganisation, jedoch für deine verletzten Gefühle in diesem Zusammenhang bin ich der falsche Ansprechpartner. Ich ermutige dich, dir jemanden zu suchen, mit dem du das bereden kannst.“
Es ist ein Balanceakt in der Gemeinschaft, einerseits geschwisterlich miteinander umzugehen, andererseits Verantwortlichkeiten zu haben und zu leiten. Der Begriff der „Selbstleitung“ ist uns dabei sehr wichtig geworden. Sich selbst prüfen, welchen Interessen das Tun folgt, „eigenen oder fremden, lauteren oder egoistischen, materiellen oder geistigen. Lernen Sie ihre Schwächen kennen und suchen Sie Mittel, sie auszugleichen.“ (Stefan Kiechle, „Macht ausüben“) Es erleichtert das Zusammenleben enorm, wenn jeder zuerst persönlich seinen Schwächen begegnet, bevor der andere sie zu spüren bekommt.
Jeder von uns hat einen geistlichen Begleiter, es gibt die Möglichkeit der „Stillen Woche“ außerhalb der Gemeinschaft. Außerdem haben wir ein Seelsorge-Ehepaar, beide Theologen, die unsere Gemeinschaft seit vielen Jahren als „Auge von außen“ begleiten. Sie sind auch in unseren Kommunitätswochen dabei und stehen für Einzelgespräche zur Verfügung.
Es ist sehr angenehm, aus Projekt- und Themenrunden herauszugehen, in denen zunehmend leichtfüßig und wohlwollend die Probleme auf dem Tisch konstruktiv beantwortet werden. Es macht sich bemerkbar, wenn die Gefährten mit ihren eigenen lebensgeschichtlichen Themen und Empfindsamkeiten konstruktiv umgehen, aktiv an passender Stelle Hilfe gesucht und Orientierung und Heilung für sich gefunden haben.
„Kränkung schneidet uns ab von unserem wahren Selbst. Stets kommt Zweifaches zusammen. Jemand oder etwas konfrontiert uns in der Gegenwart, ein tieferer Schmerz aber meldet sich aus der Vergangenheit. Wir explodieren oder erstarren. Etwas in uns krankt noch. Nimm die Not hinter der Not an, halte sie ins Licht vor Gottes Angesicht, bis die Erinnerung Heilung findet.“ (Aus: Wie Gefährten leben, Der Geist der Gekränktheit (50))