
All inclusive: lehren, bilden, wohnen
Rückblende: Wir befinden uns im Sommer 2006. Es ist für die Verantwortlichen der MCS einmal mehr eine Zeit des Aufbruchs zu neuen Ufern. MCS steht noch für Matthias-Claudius-Schule, aber bald könnte es auch für Matthias-Claudius-Sozialwerk stehen.
Die Blume des Reviers
1986 hatte die MCS in Bochum ihre Arbeit als evangelische Schule in privater Trägerschaft mit zwanzig Kindern und zwei Lehrerinnen aufgenommen. Außergewöhnlich war die Zusammensetzung: Eine Grundschullehrerin und eine Sonderpädagogin machten sich mit 16 Grundschülern und -schülerinnen sowie 4 Schülern und Schülerinnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Bereichen geistige Entwicklung, Lernen, Sprache und körperliche und motorische Entwicklung auf den Weg durch eine gemeinsame Schulzeit. Die heute viel diskutierte, oft kritisch beäugte Inklusion begann also hier in Bochum als Trendsetter vor mehr als 30 Jahren. Sie war Ergebnis einer Suchbewegung, die sich am Prophetenwort des Jeremia orientierte: Suchet der Stadt Bestes (Jer 29,7). Die Stadt, das ist für uns, die wir rund um das MCS tätig sind, Bochum, die Blume des Reviers.
Dass es überhaupt zu einer Gründung dieser Art kam, ist auch auf dem Nährboden der OJC gewachsen, die ich, einer der Initiatoren der Bochumer Schule 1980, gegen Ende meines Studiums kennen- und schätzen lernte. Das Mit- und Ineinander von Spiritualität – verankert in einer vertrauensvollen Gottesbeziehung – und das mutige Engagement in gesellschaftlich relevanten Fragen hat mich tief beeindruckt und geprägt. Von der OJC habe ich gelernt, in der Stille auf Gott zu hören und dann selbst die gemessen an der Realsituation scheinbar abwegigsten Gedanken und Träume einem Freund oder einer Gruppe zur Prüfung vorzulegen. Das bildete den Nährboden für die Schulgründung.
Das Ziel im Auge
Zurück ins Jahr 2006. Warum sollte aus der MCS ein Sozialwerk werden? Ganz einfach: Weil uns besonders die Menschen mit „Förderbedarf geistige Entwicklung und Lernen“ bewegten. Was geschieht mit ihnen, wenn sie den Erfahrungsraum einer inklusiven Schule verlassen? Immer wieder mussten wir erleben, dass die Anschlüsse nach Beendigung der Schulzeit nicht passten.
Als Schulträger hatten wir für sie einen Rahmen an unserer Gesamtschule geschaffen, die 1990 unserer Grundschule folgte. 1999 hatten dann übrigens die ersten MCS-ler ihr Abitur gebaut, darunter ein gehörloser Schüler. Ein Elternverein – MCS-Perspektive – hatte sich gebildet und ein kleines Integrationsunternehmen gegründet, das die Mensa unserer Gesamtschule betrieb. Ein überaus mühsames Geschäft. In den Anfangsjahren fanden vier junge Menschen aus unserer Zielgruppe einen Arbeitsplatz. Langfristig ließ sich dies aber wirtschaftlich nicht aufrechterhalten.
Was tun? Sollten wir beim Betreiben zweier inklusiver Schulen bleiben oder uns der Herausforderung stellen und uns im nächsten Schritt auch um die Bereiche Wohnen und Arbeiten als Sozialwerk kümmern? Das hieße, modellhaft und exemplarisch integrative und generationenübergreifende Konzepte für sie und die Menschen, die mit ihnen unterwegs sein sollten, zu entwickeln. Wir haben uns für das Letztere entschieden und weit mehr Kopfschütteln und besorgtes kritisches Nachfragen als belobigende Ermutigung erhalten.
Ohne es zu wissen, stand die OJC auch bei diesem Entwicklungsschritt still Pate. Horst-Klaus Hofmann hatte Anfang der 80er Jahre in einer Neujahrspredigt einen Bibelvers über die Heilung der Aussätzigen typologisch als Orientierungshilfe für Entscheidungen in unübersichtlicher Gemengelage gedeutet: Indem sie hingingen, wurden sie rein! (Lk 17,14). Glaubend das Ergebnis antizipieren und Schritt für Schritt darauf zugehen, stets mit der Bereitschaft, die Vorhaben auch loszulassen, wenn die Bestätigung ausbleiben würde – das hat uns bei vielen Entscheidungen wertvolle Orientierungshilfe gegeben. Aber die Bestätigung kam. Die Stadt Bochum war bereit, uns ein Grundstück für ein Mehr-Generationen-Wohnen von Menschen mit und ohne Behinderung zur Verfügung zu stellen. Uns ging es vor allem um ein größer angelegtes Wohnprojekt, möglichst in zentraler Lage, in dem sich nicht alles nur um barrierefreien Wohnraum drehte. Welche konkrete Gestalt und Anmutung es annehmen sollte, war zumindest mir nicht klar.
Ein Dorf in der Stadt
Dann kam der zündende Gedanke. In den Sommerferien 2006 hatte ich Zeit und Muße, die Ausgabe Nr. 222 des Salzkorns intensiver zu studieren: „Das Leben weiterreichen – Was Alte und Junge einander zu geben haben“. Der Artikel von Bas Leenman „Neue Dörfer stiften“ elektrisierte mich förmlich. Wäre das nicht das Modell für unser integratives Mehr-Generationen-Wohnen: ein Dorf mitten in der Stadt mit Marktplatz, Herberge, einem Ort für Kultur und Bildung und einem Raum für Stille und Gebet?! Ganz abwegig war das nicht, immerhin konnten wir eine 10.000 m² große Brachfläche, auf der der Städtische Betriebshof beheimatet war, im Herzen der Stadt und nur 300 Meter vom Hauptbahnhof entfernt, erwerben. Die Idee fand im Kreis der Mitinitiatoren Zuspruch und Unterstützung. Den Architekten, die sich an dem vom Förderverein ausgeschriebenen Wettbewerb beteiligten, wurde der Entwurf für „ein Dorf mitten in der Stadt“ ins Aufgabenbuch geschrieben. Der überzeugende städtebauliche Entwurf des Architekturbüros Heinle, Wiescher und Partner gewann, und die Idee nahm Zug um Zug Gestalt an.
Allerdings verliefen die Verhandlungen mit möglichen Kreditgebern ernüchternd: Aufgrund der fehlenden Eigenkapitalquote sei das Projekt nicht zu realisieren. Also „Ende im Gelände“?! Wir blieben dran und suchten einen Investor. Mein Vorstandskollege Joachim Stahlschmidt hatte eine Person ins Auge gefasst und startete eine Anfrage. Sie nahm eine atemberaubende Wende, als die Person zwar nicht als Investor tätig werden wollte, aber bereit war, uns fünf Millionen Euro für eine Stiftung zur Verfügung zu stellen!
So konnte die neu gegründete Matthias-Claudius-Stiftung – hinter MCS verbergen sich nicht nur Schule und Sozialwerk, sondern auch eine Stiftung – den Bau des Mehr-Generationen-Projektes in Angriff nehmen. Nach zahlreichen Klippen und Hürden sind die ersten Bewohner im Herbst 2012 in die „Claudius-Höfe“ eingezogen: Rund 180 Bewohner, darunter Studenten, Singles, Familien und Senioren, mit und ohne Handicap, üben seitdem gute Nachbarschaft. Eine lohnenswerte und schöne Aufgabe voller beglückender Erfahrungen, gepaart mit Enttäuschungen und mancher Ernüchterung. Die „Claudius-Höfe“ sind keine „OJC-Kolonie“, um einen Begriff aus den Gründungsjahren in Bensheim aufzugreifen, sondern ein eigenständiges Gebilde, das bereits mehrfach für seine besondere Architektur prämiert und vom NRW-Innovationsministerium 2013 als Ort der Zukunft ausgezeichnet wurde. Damit schließt sich ein Kreis, der für mich mit der aufrüttelnden Lektüre des OJC-Buches „(K)ein Tag wie jeder andere“ zum ersten runden Jubiläum 1978 begann.
Kommen Sie nach Bochum, machen Sie eine Stadtrundfahrt in der Blume des Reviers und nehmen Sie die Claudius-Höfe in Augenschein! Übernachten können Sie in unserem Claudius-Hotel, das hervorragende Kundenbewertungen vorweisen kann. Bochum ist eine Reise wert, besuchen Sie z. B. das Theater oder das nagelneue Musikforum, das von einem der besten deutschen Orchester, den Bochumer Symphonikern, bespielt wird. In den Pausen würden Sie übrigens von Mitarbeitern der Villa Claudius beköstigt, dem Integrationsunternehmen unseres Sozialwerkes, das in beiden Häusern für die Gastronomie zuständig ist. Wie wär’s?