Mein Weg hinter Gitter(n)

Von Bensheim bis Bautzen

Als man mich bat, einen Artikel zur Rubrik „Karriere“ beizusteuern, musste ich fast lachen. Dies Wort gibt es in meinem Denken und Wortschatz praktisch nicht. Meine Geschichte ist die einer Anti-Karriere, nicht in unsere ungeistlich aufstiegsorientierte Welt passend, nicht von Stärken und Können und erst recht nicht von einer tollen Persönlichkeit geprägt, sondern durchsetzt von Schwächen und Fehlern.

Ich habe versucht, den Ratschlag Fjodor Dostojewskis zu beherzigen: Liebe dein Schicksal, denn es ist der Weg Gottes mit deiner Seele. Ich habe die Weisheit des Paulus erfahren, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen. Ich habe die Leben gestaltende Kraft des Wortes von Jesus Christus an Paulus gespürt: Meine Freundschaft ist genug für dich, denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit. Und ich habe Bertolt Brecht beherzigt: Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren.

Als ich nach der Teilnahme an zwei der allerersten Konferenzen der OJC im Oktober 1969 erstes männliches Mitglied der Jahresmannschaft wurde, beruhte das nicht auf einem überzeugten oder selbstlosen Entschluss, sondern auf Schwäche. Mir ging es seelisch nicht gut. Das Studium fiel mir wegen Lern- und Denkstörungen schwer. Ich fragte nach dem Sinn der Schwindel erregenden abstrakten Höhen der Juristerei und fühlte mich von dem bevorstehenden ersten Staatsexamen überfordert. Hofmanns und andere taten sich damals vermutlich schwer mit einer positiven Entscheidung, denn ich erhielt sie erst in letzter Minute des von mir gewünschten Entscheidungszeitraums.
Bei der OJC kam ich ins praktische Leben zurück, wurde persönlich angenommen und durfte Fehler machen. Welthorizont zu erhalten war wichtig. So regenerierte ich, wobei ich im Gegensatz zu anderen nicht ein Jahr, sondern mehr als zwei Jahre brauchte.
Im ersten Staatsexamen sagte ich im Vorgespräch vor der abschließenden mündlichen Prüfung dem Vorsitzenden der Kommission, dass ich ja kaum noch Chancen auf ein Befriedigend hätte, ich würde aber darum kämpfen. Als ich in der Prüfung die erste an mich gerichtete Frage des Vorsitzenden beantwortete, sagte er – bei den Prüflingen als ausgemachter Sadist bekannt –, sehr gut, sehr richtig. Da wusste ich, dass er mir helfen würde, ein Befriedigend zu erreichen. Ich schaffte es.

Meine Mutter bezog damals die Mitteilungen des Schwarzen Kreuz Christliche Straffälligenhilfe e.V. Dadurch wurde ich auf den Justizvollzug aufmerksam, betreute zwei Gefangene, wofür mir aber einiges fehlte. Immerhin entschloss ich mich, später im Justizvollzug zu arbeiten. Dafür benötigte ich im zweiten Examen eine bestimmte Note, die ich nach statistischer Wahrscheinlichkeit aufgrund meiner mäßigen Vorzensur aus dem Referendardienst nicht mehr erreichen konnte. Ich litt daran sosehr, dass ich nach dem Examen zwanzig Jahre lang einmal pro Jahr träumte, ich wäre noch im Examen, und jedes Mal angstvoll und fast nass aufwachte. Meine Hausarbeit wurde von der Kommission mit 2:1 Stimmen mit Mangelhaft bewertet. Der unterlegene Fachprüfer erreichte jedoch eine erneute Diskussion und eine Höherbewertung, die mir zusammen mit anderen Faktoren ein für mich und auch vergleichsweise traumhaftes Ergebnis bescherte.

Zur Abhärtung

Mein Einstieg in den Vollzug war schwer. Nach einigen Jahren wurde ich in die JVA … versetzt. In den ersten Wochen hatte ich eine Disziplinarverhandlung gegen einen Gefangenen zu führen, der aus dem Vollzug entwichen und von einem Bediensteten verfolgt worden war, der beim Überqueren einer Straße von einem nicht beachteten Kraftfahrzeug tödlich verletzt worden war. Ich verhängte die üblichen Maßnahmen, jedoch korrekterweise nicht mehr, da – bei aller Tragik – der Gefangene den Tod des Beamten zwar verursacht, aber nicht verschuldet hatte. Daraufhin brach in der Anstalt ein Sturm der Entrüstung aus. Ich habe mich damals gefragt, warum ich in einer der seinerzeit reaktionärsten Anstalten in NRW arbeiten musste. Einige Jahre später wusste ich es – zur Abhärtung für eine weit größere Herausforderung.
Das 1977 in Kraft getretene Strafvollzugsgesetz hat vieles verbessert. Gut zehn Jahre später waren die Reformbestrebungen jedoch schwächer und das Geld knapper geworden. Es drehte sich immer mehr im Kreise. Ich war unzufrieden. So noch zwanzig Jahre weitermachen? Durch das Schwarze Kreuz, in dem Verantwortung zu übernehmen für mich selbstverständlich gewesen war und ich schnell Mitglied des Vorstandes und Vorsitzender geworden war, kam ich in Kontakt zu den Bürgerinitiativen, die sich ab 1989 um die beiden Strafvollzugseinrichtungen in Bautzen kümmerten. Ich sah mich dort ein paarmal um. Im Mai 1991 wurde ich Leiter der JVA Bautzen. Ich wusste, dass es schwer werden würde und der mentale und organisatorische Wiederaufbau ca. 15 Jahre dauern würde. Doch es wurde noch härter als gedacht.

Nach einem Jahr meinte der Abteilungsleiter im Justizministerium (JM), ich sei der Aufgabe nicht gewachsen, und wollte mich ablösen. Monatelang lag ich an arbeitsfreien Tagen bis nach Mittag im Bett und zweifelte am Sinn des Lebens. Sollte ich dazu den sicheren Hafen NRW aufgegeben haben? Irgendwie traute ich Gott jedoch nicht zu, mich in eine Sackgasse geführt zu haben. Nach Monaten atmete ich auf. Das JM hatte keinen willigen Ersatz gefunden und so blieb ich. Und das JM erkannte allmählich, dass die Schwierigkeiten in der Anstalt auf die Wirren der Wendezeit zurückzuführen waren.
Der nächste Abteilungsleiter im JM, durch eine Intrigantin fehlinformiert, sagte mir, wenn ich so weitermachen würde, müsste er mich ablösen. Ein Jahr später gingen wir zum Minister und ich erhielt eine Beförderungsurkunde. Auf dem Hin- und Rückweg erzählte mir der Abteilungsleiter zweimal, dass in Bautzen die Jungjuristen sehr gut ausgebildet würden!

Später erhielt ich eine bestimmte Weisung in einer Personalsache. Die Weisung hielt ich für rechtswidrig, da der Bedienstete entgegen der Meinung des JM nichts falsch gemacht hatte. So entschloss ich mich, aus Fürsorge für den Bediensteten, die Ausführung der Weisung zu verweigern und zwar ohne Rücksicht auf die Konse­quenzen für mich. Da saß ich nun im Zimmer des Abteilungsleiters. Und es lief nicht wie gewünscht. Da hatte ich die Eingebung, von der Sachebene auf die Beziehungsebene zu wechseln und sagte: Herr …, Sie haben schon einmal an mir gezweifelt und ich habe Sie nicht enttäuscht. Sie können sich auch jetzt auf mich verlassen. Er stutzte, dachte nach und hob seine Weisung auf. Dann sagte er völlig unvermittelt, er wüsste ja gar nicht, ob er das geschafft hätte, was ich in Bautzen geschafft hätte. Ich fiel beinahe vom Stuhl.

Eines Tages brachen Rumänen aus der Anstalt aus. Gemäß den Informationen meiner Mitarbeiter meldete ich dem JM drei Gefangene. BILD berichtete am nächsten Tag aber von vier. Irritationen im JM. Zwei Tage später teilten mir Mitarbeiter mit, man habe falsch gezählt; es seien doch vier. Eine abgrundtiefe Blamage. Gerade zu diesem Zeitpunkt lag beim Minister der Vorschlag der Vollzugsabteilung, mir die Zulage für Leiter besonderer Behörden zu gewähren. Verständlicherweise wollte der Minister nicht mehr. Ihm sagte der Abteilungsleiter: Was kann der Jäckel dafür, wenn seine Leute nicht richtig zählen können. Da unterschrieb der Minister.
Ich habe alles erreicht, was man im Justizvollzug erreichen kann – ohne mich darum zu kümmern, ohne Kollegen zu benachteiligen, ohne dass ich schleimte oder katzbuckelte. Im Gegenteil: Ich habe öfter meine Meinung reichlich offenherzig vertreten und Kritik an oben angebracht. Gut, abgebürstet wie die anderen wurde auch ich; das war schon belastend. Doch ich habe das ausgehalten, und meine Arbeit wurde trotz Fehlern wertgeschätzt. Das verschaffte mir einen Nimbus, den ich bald bitter nötig hatte.

Keine Geiselnahmen mehr

1999/2000 wurde ich der erste Anstaltsleiter in der Geschichte des deutschen Justizvollzugs, der innerhalb von zehn Monaten drei Geiselnahmen hatte. Während der letzten Geiselnahme stellte ich mir die Frage, die ich sonst wegen des Geruchs von Selbstmitleid immer vermied: Warum gerade ich? Der Täter gab nach mehreren Gesprächen mit der Verhandlungsgruppe des Landeskriminalamts nachts gegen 2:20 Uhr auf. Eineinhalb Stunden später war ich auf dem Wege zu der von der Polizei als Einsatzleitung anberaumten Pressekonferenz. Außer um den Ruf der Anstalt ging es um meinen Kopf. Auf die erste Frage eines Journalisten reagierte ich aufgrund einer Eingebung zunächst nicht auf der Sachebene und beantwortete die Frage, sondern sagte ihm: Wenn ich Sie wäre, hätte ich genau diese Frage gestellt. Damit hatte ich ihm bescheinigt, dass er sachkundig sei, und ihn wertgeschätzt; ein derart Umarmter kann schwerlich noch aggressiv sein. Das war der Schlüssel zum Erfolg. Ich vertrat – für mich selbst unerwartet – sicher und ruhig unsere Position und ließ keinen Zweifel an der Richtigkeit unserer Bewertung aufkommen. Und da die Geisel Sozialarbeiterin und Mutter von zwei Kindern war, hatten die Journalisten keinen rechten Mut mehr, forsch über die Anstalt herzufallen. Nach der Pressekonferenz spürte ich, dass Gott in einer aussichtslosen Situation die Hand über mich gehalten hatte. Die Berichterstattung in den Medien war günstig.
Nach der Geiselnahme sagte ich mir, dass jetzt die Leute einknicken mussten. Dreimal in zehn Monaten kann man einfach nicht verkraften. Die Mitarbeiter guckten schon komisch: Warum gerade wir? Doch sie fielen nicht um. Und die übrigen sieben Sozialarbeiterinnen, mehrheitlich unter 30 Jahre, wackelten ein paar Wochen. Dann standen sie wieder gerade. Ich war fasziniert. Dass ich sowas erleben durfte!
Zehn Tage nach dem Vorfall rief mich jemand aus dem JM an und teilte mir in freundlichem Ton mit, eine vierte Geiselnahme oder eine andere außergewöhnliche Sicherheitsstörung in nächster Zeit würde das JM politisch nicht mehr durchstehen. Das war mir ohnehin sonnenklar. Unnötig zu erwähnen, dass es die nächsten zehn Jahre bis zu meiner Pensionierung keine Geiselnahme mehr gab.

Seit 2010 befinde ich mich auf dem Weg vom Status des Tuns zum Status des Seins. Für diesen haben sich zwei Mottos herausgebildet: Bete und liebe! Leide und freue dich! Ich bin gespannt.

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