
Hija del tigre
Meine Lebenshaut überzieht ein seltsames Muster aus Flecken und Streifen. Ich lebe seit bald vier Jahren in Deutschland, dem Land, in dem ich geboren und aufgewachsen bin. Zwischendurch habe ich 18 Jahre lang in Costa Rica gelebt – dem Land, das mir zur zweiten Heimat wurde. Wenn ich an Costa Rica denke, fällt mir ein: Der Ruf des Tukans, mein Haus ganz aus Holz, Freunde in der Stadt und unter den Indigenen, Missionare, die mit uns unterwegs waren, der See, das Meer, die Wärme, die weiche Feuchtigkeit der Luft, der ohrenbetäubende Regenguss, der Urwald, die Strände und Muscheln, das Essen, die Früchte, die satten Farben, die Einfachheit des Lebens, der Stolz und die Würde der Menschen, die wunderbaren Sprachen, meine Kinder in allen Phasen ihres Heranwachsens, die fröhlichen Gottesdienste, die Schlichtheit und Heiterkeit der Feste, aber auch der Schimmel auf den Schuhen und die Spinnen in der Dusche. All das hat mich geprägt und gelehrt. Ich habe Heimat darin gefunden.
Die Anfänge
Der Anfang war schwer. Sprache, Klima, Infrastruktur, Wohnen, Rituale, Formen des Umgangs, Landschaften, Flora und Fauna, Überzeugungen, Einkaufen – all das, was man unter dem Wort Kultur zusammenfasst, ist anders und muss erst entdeckt und verstanden werden. Aber auch der zweite Anfang in Deutschland nach 18 Jahren war schwer – was nicht jeder gleich versteht. Ich bin doch Deutsche. Ich kenne mein Land und die Kultur! Das costaricanische Sprichwort „Hijo del tigre sale pintado“ agt etwas über die eigene Prägung aus: „Tigerkinder kommen gestreift zur Welt“. Der Bedeutungshintergrund ist derselbe wie beim deutschen „der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“. Du bist geprägt durch deine Herkunft. Ich war in Costa Rica in manchen Dingen deutscher als ich es hier bin. Es gab ab und zu Kässpätzle, mit den Kindern übte ich Volkslieder, und auch unterschwellig transportierte ich mit meinem ganzen Sein meine deutsche Prägung. Ich war eben gestreift zur Welt gekommen.
Flecken zu den Streifen
Es scheint unlogisch, dass dann die Rückkehr nach Deutschland noch schwerer war als die Ausreise nach Costa Rica. Ich hätte doch mit meinen deutschen Streifen hier nicht auffallen müssen, mich leicht wieder integrieren können. Aber das Sprichwort erzählt eben nur vom Anfang des Werdens. In Costa Rica kamen zu den deutschen Streifen costaricanische Flecken. Eine andere Sicht, die ich nicht missen möchte. Ich finde viele Dinge überhaupt nicht so schlimm wie manche Deutsche: Warten beim Arzt, in einer Schlange anstehen, schlechte Internetverbindung, ein Regenguss aus heiterem Himmel und kein Schirm dabei, allein im Dunkeln zu Fuß unterwegs, ein hupender Autofahrer, Stromausfall, ein Schlagloch, Insekten, eine nicht fertigwerdende Baustelle, der Nachbar mäht seinen Rasen nicht, heute gibt’s dasselbe wie gestern und vorgestern und letzte Woche zum Essen. Darüber kann ich mich gar nicht aufregen. Über manches freue ich mich sogar. Ich erinnere mich, wie meine Tochter und ich einmal entzückt sagten: Guck mal, eine Ameisenstraße, hier in Deutschland! Anderes hat mich irritiert und es hat eine Weile gedauert, bis ich an der Tankstelle ausstieg und nicht mehr nach dem Tankwart Ausschau hielt.
Sich neu erfinden
In den ersten Jahren hier erlebte ich eine große Unsicherheit in Bezug auf meinen Wert und meinen Beitrag zur Gesellschaft. In Costa Rica war meine Rolle klar und die Arbeit mit den Indigenen unumstritten sinnvoll. Nach unserer Landung in Deutschland fing ich als unbeschriebenes Blatt noch einmal neu an. Was ich konnte und wusste, stand mir nicht auf der Stirn geschrieben und ich hatte auch kein entsprechendes Diplom vorzuweisen. Ich merkte schnell, dass sich Sätze wie „in Costa Rica habe ich das immer so gemacht …“ nicht allzugroßer Beliebtheit erfreuten. Und doch war es mein größter Wunsch, anerkannt zu werden und dazu zu gehören. In meinem Bestreben, einen Platz zu finden, sagte ich bei vielen Anfragen zu – nun musste ich aufpassen, dass ich mich nicht überforderte. Dazu kam, dass auch die Kinder sich „neu erfinden“ mussten – und sie hatten es noch schwerer, denn Costa Rica war eindeutig ihre Heimat, die sie sehr vermissten. So galt mein Engagement in erster Linie der Begleitung der Kinder, und mein eigener Kampf musste immer wieder „vertagt“ werden. Das kostete viel Kraft. Erst langsam fügen sich die zwei Stränge meines Lebens zu einer Geschichte zusammen. Geholfen haben mir die Menschen um mich herum, die mich in ihre Mitte nahmen und mich einfach gern hatten. Ich lernte, dass ich nicht erst beweisen musste, was ich drauf habe. Eine Freundin sagte mir einmal: „Vielleicht geht es gar nicht darum, was dein Beitrag ist. Vielleicht geht es nur darum, dass du geliebt bist um deiner selbst willen.“ Das dichte Zusammenleben auf dem Schloss erfordert Flexibilität und einen langen Atem – da kann ich meine costaricanischen Flecken gut gebrauchen. Nicht gleich zu werten ist ein Grundsatz der OJC, jeden erstmal sein lassen, wie er ist. Wahrnehmen, sehen, sich öffnen. Auch in Fragen der Glaubenspraxis. Hier findet das, was ich in Mittelamerika im Umgang mit anderen Kulturen erlebt habe, mit der Lebensweisheit der OJC-Gemeinschaft zusammen. Überhaupt hat die weltumspannende Solidarität der OJC und die Verantwortung für gesellschaftliche Fragen von Anfang an zu unseren Herzen gesprochen. Ich kann nun immer mehr sagen: Es passt. Ich kann hier meine Flecken und Streifen einbringen, sie bereichern mein Leben und auch mein Umfeld. In einem Urwaldwinkel des Schlossgartens habe ich meine Hängematte aufgehängt, in der ich ab und zu ein deutsches Bier trinke. Meine costaricanischen Flecken passen gut zu den deutschen Streifen. Das Leben gelang dort und es gelingt hier. Ich bin in doppelter Hinsicht und mit großer Freude Tigers Tochter.