
Hopfen und harren
Abwechselnd kurbeln vier erkennbar jüdisch gekleidete Männer an der Schrotmühle. Sie zerkleinern das Gerstenmalz für die Maische. Es ist Freitag, wir stehen vor unserer Garage, die Sonne scheint: der Vater Yissachar Granitsky, orthodoxer Rabbiner, und seine Söhne Moshe und Meir, Rabbiner der eine, Schreiber der andere, sein Jüngster, Shmuel, und ich als der Prior der OJC. Meine vier israelischen Gäste, die auf den Spuren ihrer Vorfahren Reichelsheim und die OJC besuchen, haben sich vom geplanten Ausflug abgemeldet, um die Kunst des Bierbrauens zu erlernen.
1. Vom Ende her denken
Die Rezeptur ist das Alpha und Omega. Schon am Anfang muss man das Ergebnis gedanklich vorwegnehmen: Was für ein Bier will man, welche Zutaten stehen zur Verfügung bzw. sind noch zu besorgen? Wie vieles andere auch, will Brauen vom Ende her gedacht sein. Die Bestandteile sind – wie es das Reinheitsgebot vorschreibt –, Wasser, Malz, Hopfen und Hefe. Nicht mehr, nicht weniger. Meine Gäste packen beherzt an und mischen die verschiedenen Malzsorten, die sie zuvor sorgfältig gewogen und natürlich gekostet haben, zusammen. Beim Sammeln der Rohstoffe schildere ich ihnen begeistert die Analogien zum Glauben, die wir vor allem in unseren Männerseminaren ziehen. Zum Beispiel: Wenn man schon beim Bierbrauen vom Ende her denken muss, gilt das erst recht für den Glauben. Als Schüler der Thora und der Bibel glauben und leben wir zumindest theoretisch vom Ende her: Wir warten, ob Juden oder Christen, auf das Kommen des Messias. Bevor wir diesen Gedanken vertiefen können, müssen wir den nächsten Schritt in Angriff nehmen.
2. Das Schroten – mit der Gottessehnsucht in Berührung kommen
Das abgewogene Malz rutscht durch den Trichter zwischen die Walzen der Schrotmühle. Eifrig wechseln sich die vier beim Kurbeln ab und schauen gespannt, wie das Malz nun aufgebrochen aus der Mühle in einen altgedienten Emailletopf fällt. Die Utensilien sind schlicht, Bierbrauen kann man mit Gefäßen, die man daheim hat. Für den Einstieg braucht es kein spezielles Equipment, die Zutaten gibt es im Versandhandel.
Doch was haben Schroten und Glauben gemeinsam? Wir sind uns schnell einig, dass Gott, der Heilige, einer ist, der sich nach seinem Geschöpf sehnt und ER, der Allmächtige, in den Menschen eine tiefe Sehnsucht nach dem Göttlichen gelegt hat. Doch diese Sehnsucht ist oft von einer harten Schale umgeben – sei es Ablenkung oder Eigenwilligkeit. Oft sind es Schicksalsschläge oder Zeiten der Not, die diese harte Schale aufbrechen und die tiefe Sehnsucht freilegen, sodass wir bereit werden, Gott an unser Innerstes heranzulassen.
3. Die Maische – Time Out
Die Maische bildet das Herzstück. Das geschrotete Malz kippen meine Braulehrlinge in einen großen Edelstahltopf mit 40° C warmem Wasser. Das Wasser-Malz Gemisch wird nun auf bestimmte Temperaturstufen erhitzt. Mit Thermometer und Rührlöffel achten sie darauf, dass das Malz vom Wasser gut umspült wird. Während dieser „Temperatur-Rasten“ wandeln die im Malz vorhandenen Enzyme die Stärke in Zucker um, den die Hefe später für die Gärung braucht. Ohne Zucker kein Alkohol und keine Kohlensäure.Wir erhöhen die Temperatur auf 64° C und stellen unsere digitale Sanduhr auf 60 Minuten. Nun heißt es warten und nichts tun: Ruhe, Auszeit, Time-Out. Im Gespräch landen wir ohne Umschweife bei der Bedeutung des Sabbats für Geist, Seele und Leib. Dabei lasse ich mir erklären, warum orthodoxe Juden welches Gesetz wie umsetzen. Mich fasziniert ihr selbstverständlicher Umgang mit den Ver- und Geboten, die alle dazu dienen, die Beziehung zu Gott, den Mitmenschen und sich selbst wiederherzustellen. Der Sabbat hilft uns im wahrsten Sinne des Wortes, Maß zu halten! (Nach dieser Begegnung haben wir in der Familie den Sonntag als medienfreie Zeit deklariert.) Der Zeitmesser reißt uns aus dem Gespräch, der nächste Schritt steht an. Um sicher zu gehen, dass die Stärke nun komplett in leicht- und in schwervergärbare Zucker umgewandelt wurde, nehmen wir einen Esslöffel von der Flüssigkeit beiseite und träufeln etwas Brauerjod darauf. Es verfärbt sich gar nichts, d. h. das Resultat stimmt.
4. Läutern – rein und unrein
Im nächsten Schritt trennen wir die flüssigen (zuckerhaltige Würze) von den festen (Malz) Bestandteilen. Das gelingt mit einem Sieb, das 5 Zentimeter über dem Topfboden montiert ist. Auf der Höhe zwischen Topf- und Siebboden fließt die 78° C warme Würze durch einen eingebauten Hahn in einen anderen Topf ab. Das ausgelaugte Malz bleibt abgesondert zurück. Mir kommt der Begriff vom „geläuterten Herzen“ in den Sinn, das sich von allem Weltlichen getrennt hat. Im jüdischen Denken nimmt der Gegensatz Reinheit – Unreinheit, heilig – profan einen großen Raum ein, hat doch Gott zu seinem Volk gesagt: Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig (3 Mo 19,2).
Genau darum drehen sich alle Vorschriften: nicht unrein werden. Denn Unreinheit trennt den Menschen von Gott, die Sehnsucht des Juden ist es, möglichst nah an Gott zu sein. Persönlich bedauere ich, dass uns Christen, zumal den Protestanten, der Sinn für das Heilige verloren gegangen ist und Jesus uns oft nur noch als der gute Kumpel gilt.
5. Hopfenkochen – ein Gott der Leidenschaft
Zum Bierbrauen gehört das Probieren der Rohstoffe in ihrer reinen, unverarbeiteten Form. Die vier Israelis lassen den Hopfen neugierig auf der Zunge zergehen. Dann verziehen sie das Gesicht und spucken das grüne Gewächs aus. Was in purer Form bitter und unangenehm schmeckt, wird durch Kochen und Vergären wunderbar eingebunden. Der Hopfen verleiht dem Bier die angenehme Herbheit, stabilisiert den Schaum und macht das Bier haltbar. Außerdem ist das Hanfgewächs gut für die Nerven und ein ausgezeichneter Aperitif.
Inzwischen kocht die geläuterte Würze, und der Hopfen wird nach und nach hinzugegeben. Ganze 90 Minuten muss die braun-grüne Flüssigkeit kochen, um die erwünschten Geschmacksstoffe zu extrahieren. „Was verbindest du innerlich und inhaltlich mit diesem Schritt?“, fragt dieses Mal Meir. Mit dem Hopfenkochen verbinde ich ein aggressiv-leidenschaftliches Geschehen. Die Würze muss rollend kochen. Da ist Bewegung drin, da ist nichts Laues, nur schäumende Bewegung. Wir reden darüber, wie auch Gott ein leidenschaftlicher Gott ist. Einer, der vor Aggression nicht zurückschreckte, um sein Volk zu beschützen oder es zurechtzuweisen. Wir sprechen über die Gottesfurcht, die uns Christen weitgehend abhanden gekommen ist.
6. Würze ausschlagen – Gott mit ganzem Herzen lieben
Nach dem Hopfenkochen schalten wir den Gasbrenner aus und sehen, wie das ausgeflockte Eiweiß und der Hopfen auf den Boden des Gefäßes sinken. Mit einer „Kühlschlange“ kühlen wir die Würze auf ca. 28° C herunter. Anschließend fließt das Zwischenergebnis, eine rötlich-gehopfte Würze, in den Gärbottich – und über unseren Gaumen. Erstaunt stellen sie fest, dass sie extrem süß und herb (bitter) zugleich schmeckt.
Meir fragt schon ganz ungeduldig nach meiner theologischen Verknüpfung. Meinen Gästen geht das Herz auf, als ich auf das Sch’ma zu sprechen komme, das Herzstück jüdischen Glaubens und Bekenntnisses: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzem Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft (5 Mo 6,5). Ich erzähle ihnen, dass ich lange das „mit ganzem Herzen“ nicht verstanden habe. Ist das Herz nicht zwiespältig? Hat es nicht Anteile, die bitter sind und die man am liebsten ausklammern möchte? Gutes und Böses sind im Herzen. Bis ich verstanden habe, was die Mishna, die mündliche Auslegungstradition der Thora, darüber sagt: Wenn sie von ganzem Herzen redet, meint sie tatsächlich, mit beiden Trieben, dem guten und dem bösen eben. Wir brauchen uns mit unseren dunklen Seiten nicht vor Gott zu verstecken. Sie bestätigen meine Folgerungen: Der Allmächtige kann besser mit unseren Schattenseiten umgehen, wenn wir sie ihm bringen.
7. Hefe hinzufügen – nun wird es heilig
Die Hefe vollendet den Brauprozess. Sie macht aus der herb-süßen Würze ein vollmundiges Bier, indem sie den Zucker vergärt. Im Gärprozess entstehen Alkohol, Kohlensäure und diverse Geschmacksstoffe und Aromen. Ohne sie gäbe es den wunderbaren Gerstensaft nicht. So wie die Woche sieben Tage hat, braucht es sieben Schritte für ein gutes Bier. Die Sieben gilt in der jüdischen Tradition als die wichtigste Zahl, sie ist heilig. An Pessach feiert das jüdische Volk über sieben Tage den Auszug aus Ägypten. Am siebten Tag der Schöpfung ruhte Gott und heiligte ihn, den Sabbat.
Wir haben alles getan, was zur Herstellung des Bieres nötig ist. Nun gärt es vor sich hin. Währenddessen bereiten wir uns auf den Sabbat vor. Unwillkürlich kommt mir der Gedanke: Der Sabbat hilft nicht nur zur Vollendung, wir werden durch ihn auch vollmundiger. Er hilft uns, einen Geschmack am Glauben zu entwickeln. Ich staune nicht schlecht, als Moshe in seiner Ansprache bei der Sabbatfeier immer wieder auf das Bier zu sprechen kommt. Nach der Feier nimmt er mich beiseite: „Das nächste Mal, wenn wir für fünf Tage kommen, verzichten wir auf die Besichtigung fünf weiterer Synagogen. Wir brauen fünf Mal Bier!“ Beim Abschied dann gibt es ein fröhliches Prosit und ein herzliches Schalom! Eine Brücke zu den Herzen ist geschlagen. Hopfen und Malz – Gott erhalt’s!