
Belohnungszentrum im Gehirn
Angela Ludwig: Du betonst gern, dass nicht nur die professionelle therapeutische Hilfe für einen
Heilungsprozess nötig ist, sondern auch die Gemeinschaft als Unterstützergruppe im Alltag. Worin liegt ihre Stärke?
Arne Hofmann: Ich würde es andersherum formulieren. Ihr habt euer gemeinsames Leben, euren Auftrag, z. B. das Erfahrungsfeld, weltweite Projekte und eure Routine. Dann gibt es noch meist jüngere Menschen bei euch, die „Ausrüstungslücken“ haben wie Vernachlässigung, Traumatisierung oder einen noch unklaren Zielhorizont: Was will ich mit meinem Leben machen? Die integriert ihr in euer Programm, das ihr sowieso habt. Sie gliedern sich ein in die Teams und machen die Erfahrung, dass sie nützlich sein können, Wertschätzung erleben, vielleicht sich zum ersten Mal mit geistigen Themen auseinandersetzen, eigenständig Entscheidungen treffen, lernen wie man Konflikte regelt oder einen Beamer bedient. Kurz, sie bekommen eine soziale Basis und viel Praktisches im Alltag mit. Es gibt immer die, die davon profitieren. Eine Gruppe, die gemeinsam etwas macht und Spaß dabei hat, ist eine positive, heilende Erfahrung. Hinzu kommt, dass sie bei euch die Möglichkeit haben, bei einem Seelsorger oder Mentor über offene Fragen tiefer nachzudenken oder sie sogar aufzuarbeiten. Die „Kauai-Studie“ mit 900 Achtjährigen hat herausgefunden, dass ein Drittel der vernachlässigten Kinder später stärker wurde als sozial unauffällige Kinder. Warum? Weil sie eine liebevolle ältere Bezugsperson oder Bezugsgruppe außerhalb der Familie hatten, die aber eine zuverlässige Bindung anbot. Die haben gar nichts Besonderes gemacht und es hatte trotzdem eine heilsame Funktion. So eine Gruppe mit guter Bindung seid auch ihr.
Was hat ein Gemeinschaftsleben an sich, dass es biografisch Unbewältigtes anzustoßen vermag?
Der Mensch ist mit einer starken Bindungs- und Kooperationsfähigkeit ausgestattet, er ist ein Gruppenwesen. Das hat Vorteile und Gefahren. Das Wichtigste ist, dass diese Gabe große Stärke erzeugt und einen Mechanismus der Heilung und Selbstheilung in Gang setzt. Das menschliche Gehirn hat eine enorme Selbstheilungskraft. Im Laufe einer Lebensgeschichte sammeln sich Dinge an, die belastend sind. Die meisten von ihnen verarbeiten wir spontan, jedenfalls in einer gesunden Umgebung mit vertrauten, warmherzigen Beziehungen. Diese Gruppe ist etwas ganz Wichtiges, ein Schutzraum. Das Kind sucht die Bindungsbereitschaft zuerst bei seinen Eltern, weil es sie braucht. Ungefähr 60 % der Normalbevölkerung hat diese gute stabile Bindungsfähigkeit mitbekommen und kann sie weitergeben. Dazwischen gibt es verschiedene Arten unsicherer Bindung. Diese Menschen suchen nach einer Familie, Gemeinschaft, Clique oder Bande, wo sie Bindung eingehen können und eine seelische Behausung für sich finden.
Das Bindungsgeschehen ist also auch in einer Gemeinschaft enorm wichtig, um sich weiterzuentwickeln?
Menschen mit sicherer Bindung sind widerstandsfähiger gegen seelische Erkrankungen und Suchtgefahr. Das Belohnungszentrum im Gehirn „ernährt“ sich natürlicherweise von guter Bindung. Es wird aktiv, wo z. B. Lebensglück da ist. Wenn dieses fehlt, sucht es nach Ersatz. Sehr einfach gesagt: Suchtstoffe sind daher hauptsächlich der Ersatz für gute Bindung! Wenn nun ein Mensch mit hoher Selbstheilungskraft in einer Umgebung vertrauter Beziehungen und mit starken, gesunden Elementen ist, signalisiert das Unbewusste: Oh, hier wäre eine Chance, eine alte unbewältigte Geschichte zu einem guten Ende zu bringen. Hier können Schutzmechanismen fallen gelassen werden, sich tiefere Ebenen der Seele melden und an die Oberfläche kommen. Das Wichtige dabei für die Gruppe ist, dass sie genügend seelsorgerliches Potenzial hat und mit der Situation umgehen kann. Jetzt kann nämlich Unruhe aufkommen, die Person funktioniert manchmal nicht mehr einfach. Sie braucht Verständnis, Zeit, Ruhe. Eine eher außen orientierte Gruppe, die für innere Probleme wenig Raum hat, wird das als Störfaktor sehen. Generell ist es ein Zeichen der Gesundheit einer Gruppe, wenn sich Unbewältigtes aus der Vergangenheit melden kann.
Es gibt Momente, wo die seelsorgerliche Begleitung an eine Grenze kommt und fachliche Hilfe nötig ist. Was sind alarmierende Anzeichen?
Ihr könnt davon ausgehen, dass ihr den einen oder anderen habt, der psychisch belastet ist. Gemeinschaften und Gemeinden ziehen hochbedürftige Menschen an, einfach weil da Nestwärme ist. Aber viele Seelsorge-Begabte überfordern sich schnell. Sie kommen oft selbst aus problematischen Familien, wo sie ihre feinfühligen Sensoren entwickelt haben. Ihr müsst nüchtern eure Grenzen erkennen und euch fragen: Haben wir überhaupt die Ausrüstung und genügend seelsorgerliche Kapazität, einen oder sogar mehrere dieser schwerbelasteten Menschen aufzunehmen? Was können wir tragen, was passt zu unserem Auftrag? Manchmal müssen harte Entscheidungen getroffen werden. Als Seelsorgeteam müsst ihr notwendige Grenzen ziehen und die Zahl der Bedürftigen begrenzen, denn ihr seid auch Wächter für die ganze Gemeinschaft. Das Ziel einer feinfühligen Begleitung ist, dass sich der (junge) Mensch selber weiterentwickelt und in diesem Prozess unterstützt wird. Eine Grenze ist dann gegeben, wenn er nicht wächst oder in eine Lebensentwicklung hineinkommt, die eine Sackgasse ist. Dann braucht es Unterstützung von außen. Und natürlich bei Selbstmordgefahr. Da kommt mir ein Bibelvers von Paulus in den Sinn, der oft falsch verstanden wird: „Ihr sollt vollkommen sein.“ Das griechische Wort teleios zielt nicht auf Perfektion, sondern auf gesundes Wachstum und Reife. Das ist die Richtung!
Seelsorgerliche Begleiter möchten natürlich, dass eine Person in großer Not eine Chance bekommt. Es entsteht Vertrauen, vielleicht sogar eine Bindung. Irgendwann kippt es aber, der Begleiter ist überfordert. Was ist hier angemessen?
Das Stichwort ist engagierte Abstinenz. Eine Bindung eingehen ist wichtig, aber die Grenze muss immer im Hinterkopf sein. Ein Teil vom Seelsorger muss abstinent bleiben. Also keine zu tiefe Bindung zulassen, wenn man sich auf den anderen einlässt. Du kannst die Heilung nicht machen. Die Verantwortung liegt beim Seelsorgesuchenden selbst, du bist unterstützend. Er darf nicht in die Rolle des ständig fordernden Kindes fallen und du wirst zur immerwährend ernährenden Mutter. Die Grenze muss gezogen werden, wenn der Begleitete sich nicht mehr weiterentwickelt oder wenn der Seelsorger merkt, dass er überfordert ist. Ihr habt nur begrenzte Ressourcen zur Verfügung, die sind kostbar, die sollten die bekommen, die sich weiterentwickeln wollen. Diese Grenzziehung ist für den Betroffenen zwar schmerzhaft, aber erfahrungsgemäß bringt das Freigeben ihn viel weiter als sein Bleiben, weil er aus der Erfahrung einer positiven Bindung über eine gewisse Zeit still den Keim der Hoffnung mitnehmen kann.
Welche Gefahren siehst du noch für eine Gemeinschaft?
Eine Gefahr sind Menschen, die keine Macht vertragen. Wenn sie Macht bekommen, verwandeln sie sich vom unauffällig angepassten Menschen zum offenen Narzissten, der rücksichtslos Leute überfährt und nur seine Ziele verfolgt. Diese Menschen werden ruppiger, unempathischer, verheizen Menschen ohne jedes Feingefühl und ohne wirkliches Einbeziehen. Ihre soziale Fähigkeit nimmt ab. Sie haben ein tolles Bild von sich und neigen zu Größenideen. Meist meinen sie, dass sie selbst keinen seelsorgerlichen Begleiter oder Supervision brauchen. Die Verantwortlichen einer Gemeinschaft müssen das erkennen und prüfen, wem sie Leitungsaufgaben und Macht anvertrauen und notfalls Grenzen ziehen.
Zum Schluss eine heikle Frage: Was sind „toxische Beziehungen“, vor denen du öfters warnst?
Toxische Beziehungen sind ungesunde, ausbeuterische und wachstumshemmende Beziehungen. Es gibt sie überall, auch in Gemeinden und Gemeinschaften, besonders dort, wo Abhängigkeitsbeziehungen bestehen. Beziehungen in Gemeinschaften müssen sicher strukturiert werden. Strukturieren heißt, die Dinge bewusst ordnen und Vorsorge treffen. Als ich in den USA studierte, habe ich entdeckt, dass in vielen Kirchen Frauen mit einem männlichen Seelsorger nicht allein gelassen wurden. Die Tür stand immer offen. Das war in der Zeit, als viele sexuelle Übergriffe in Kirchen und anderswo bekannt wurden. Man wusste, da ist ein Risikofaktor und hat Vorsorge getroffen. Gemeinde ist auch dazu da, Schwächere zu schützen und auf diese Gefahren ein wachsames Auge zu haben. Schlimm genug, wenn sexuelle Übergriffe im Gemeindekontext geschehen. Noch schlimmer, wenn andere in der Gemeinde das wissen und nichts tun, sondern das Unrecht decken. Das macht sie genauso schuldig. Und das macht nicht nur sie und die Gemeinde kaputt, sondern auch das Vertrauen in das Evangelium. Die Folge für die Betroffenen ist, dass sie dem Glauben den Rücken kehren, das Christentum nehmen sie als Lüge wahr, es ist für sie gestorben.
Wie beugen wir solchen Übergriffen vor?
Das Gegengift ist das wachsame Auge, das auf die Schutzlosen, vor allem auf die Kinder, achtet und für ihre Sicherheit sorgt. Man muss die chronischen Täter oder Gelegenheitstäter kennen, die es eben gerade auf diese Menschen abgesehen haben. Und natürlich muss auf tatsächliche Opfer gehört werden.
Die Wachsamen in Gemeinden und Gemeinschaften müssen sich verbünden und klare Grenzen setzen. Das ist schwierig, aber notwendig. Die Reinigung muss von innen geschehen. Letztlich müssen auch die Täter ihre Verantwortung den Opfern gegenüber wahrnehmen. Die meisten Täter sind aber nicht einsichtig. Jesus hat mehrfach Partei für die Kinder ergriffen und das Wort vom Mühlstein (Mt 18,6) ist kein Zufall. Jesus war empört, weil Opfer nicht geschützt wurden. Das gilt auch heute noch.