
Kriselsteine
1968
Wir hatten uns voll Vertrauen in die Ehe gestürzt. Selbst wenn ich eigentlich „viel zu jung“ zum Heiraten war, so war mein Mann mit seinen 27 Jahren ja alt genug. Wir kamen beide aus großen Familien mit einer reichhaltigen Feier-, Spiel- und Beziehungskultur. Und auch wenn wir davon überzeugt waren, dass wir vieles ganz anders machen würden als unsere Eltern, wünschten wir uns Kinder. Ich arbeitete als Arzthelferin und mein Mann als Architekt. Wir hatten eine kleine perfekt eingerichtete Wohnung und ein Auto, und ich war überzeugt: Er ist der Richtige! Für uns schien das Glück perfekt. Zwei Jahre später sah alles anders aus. Wir waren voneinander enttäuscht und stritten uns ständig. Jetzt war ich überzeugt: Er ist der falsche Mann! Wir sahen keine Zukunft mehr für uns. Genau zu diesem Zeitpunkt begegneten wir Horst-Klaus und Irmela Hofmann auf einer Studententagung. Die beiden hatten eine ansteckende Ausstrahlung. Ihre herzliche Art zueinander und zu uns, ihre Heiterkeit, ihr weites Herz und ihr gesellschaftlicher Horizont faszinierten uns. Sie nahmen uns ernst und sie hörten uns zu. Obwohl wir in christlichen Elternhäusern aufgewachsen waren, war das Christsein hier ganz anders als das, was wir bis dahin kannten. Sein Leben für etwas einzusetzen, das größer und weiter ist als kleinbürgerliche Anständigkeit und Glück, das hat uns entzündet und Sehnsucht in uns geweckt – so wollten wir leben!
Ganz unabhängig voneinander machten mein Mann und ich auf dieser Tagung die Erfahrung von Vergebung und Befreiung aus persönlicher Schuld.
Bis dahin hatten wir alles Unschöne, Unbequeme und Verletzte einfach unter den Teppich gekehrt und alle Energie dafür verwendet, den Partner zu verändern. Dabei waren wir in einem ständigen Machtkampf gelandet. Es ging nur noch darum, wer Recht hatte und wer sich durchsetzen würde. Daneben hatte jeder seine Heimlichkeiten. Wir lebten mehr nebeneinander her als miteinander und das Vertrauen war zerbrochen. Als wir von dieser Tagung nach Hause fuhren, hatte sich unser Leben grundsätzlich verändert und wir ahnten, dass es sich weiter verändern würde. Wir hatten uns von Gott angenommen erfahren wie wir sind. Mit allen Schattenseiten. Wir hatten es riskiert, einander unsere Verletzungen zu zeigen und zu unseren Fehlern zu stehen. Und anstatt wie üblich in gegenseitigen Vorhaltungen zu landen, hatten wir das Scheitern unserer Liebe in Gottes Hände gelegt – mit der Bitte: „Mach etwas aus uns und unserem Leben, das Dich ehrt. Wir wollen uns auf Dich und Deine Zukunft einlassen.“ Wir wünschten uns jetzt ein Leben, das andere mit Liebe und Hoffnung anstecken würde, so wie wir es gerade selbst erlebt hatten. Wir vertrauten dem Wort Jesu: Wer an mich glaubt, von dessen Leben (Leib) werden Ströme lebendigen Wassers fließen (Joh 7,38).
Das hatte seinen Preis. Wir begannen, im familiären und beruflichen Umfeld Dinge in Ordnung zu bringen und Beziehungen zu bereinigen. Es kostete Mut, bei früheren Chefs, Kollegen, Geschwistern und auch unseren Eltern vergangenes Unrecht einzugestehen. Wir wollten tun, was wir als richtig erkannt hatten. Das Hören auf Gott und sein Wort war für uns alles andere als eine fromme Übung, es war Lebenselixier. Wir wollten nicht mehr nur glücklich werden, wir wollten mitbauen an einer gerechteren Welt, die verwurzelt ist in der Liebe und Achtung vor jedem Menschen. Dazu gehörte auch, voreinander offen und ehrlich zu sein, damit wieder Vertrauen zwischen uns wachsen konnte. Wir beschlossen, uns regelmäßig zu einem Eheabend zu treffen, um miteinander zu reden und voneinander zu hören. Anfangs gelang das nur mit Spielregeln: Jeder hat die gleiche Zeit zum Reden und Zuhören, wir fallen einander nicht ins Wort und kommentieren den anderen nicht. Trotzdem dauerte es fast zwei Jahre, bis neues Vertrauen gewachsen war. Wir begannen, unser Leben für Freunde, Nachbarn und Geschwister zu öffnen. Mein Mann fing an, über seine Projekte hinaus für die Mitarbeiter in seinem Büro zu beten und sich für sie zu interessieren. Wir luden ein und halfen, wo wir konnten. Ich entdeckte vernachlässigte Kinder in unserer Nachbarschaft und begann, mich um sie zu kümmern.
1971
Inzwischen hatten wir zwei kleine Kinder und erwarteten mit Freude das dritte. Wir hatten uns ja von Anfang an eine große Familie gewünscht und waren auf dem besten Weg dahin. Dieses Kind kam 6 Wochen zu früh mit einem Kaiserschnitt zur Welt. Als ich aus der Narkose erwachte, stand ein freundlicher junger Arzt an meinem Bett und sagte: „Ihr Kind ist gleich nach der Geburt gestorben. Es tut mir sehr leid.“ Ein riesiger Schmerz erfasste mich. Ich verlor jeden Sinn für Zeit und Raum. Mitten in meinen Schmerz hinein geschah etwas. Gott war da. Mitten im Schock, mitten in meiner Erschütterung erfüllte mich Frieden. Ich war in einer wundersamen Geborgenheit gehalten und getröstet. Er war da, war ganz Licht, ganz Güte, ganz Trost, wie es im Psalm 23 heißt: … und wenn ich auch durchs Tal des Todes wandere, Du bist bei mir, Du tröstest mich. Dieser Trost hielt mehrere Wochen an. Trotzdem weinte ich viel. Ich trauerte um den Verlust unseres Kindes bei jedem Kinderwagen, den ich sah. Und ich weinte, weil von meinem Herzenswunsch nur Scherben übrig waren. Aus ärztlicher Sicht konnte ich kein gesundes Kind mehr zur Welt bringen. Der Tod dieses Kindes war ein tiefer Einschnitt in unserem Leben.
Immer wieder trug ich die Scherben in Gottes Gegenwart und klagte mein „Warum? Warum gerade wir? Warum nur zwei Kinder? Das ist zu wenig!“ Ich fürchtete, dass meinen Kindern vieles von dem fehlen würde, was wir in unseren Familien erleben konnten. Wir hatten zusammen gesungen, Theater gespielt, geteilt, gekämpft und gelacht. Ich sah unser zukünftiges Leben vor mir, eingeschränkt und unausgefüllt. Mitten in mein Fragen und Trauern hinein bekamen meine Gedanken eine neue Richtung. Angestoßen durch eine Bibelauslegung über Römer 12,1-2 und beim Lesen einer Biografie tauchte in mir eine Frage auf: „Warum liebst du nur die, die du geboren hast? Meine Familie ist größer.“ Ich verstand: in der Welt gibt es so viele verlassene Kinder und fehlende Geborgenheit. Für diese Menschen könnte ich mein Herz und mein Haus öffnen. Im Gespräch mit Gott habe ich in die „Herzerweiterung“ eingewilligt. Noch ahnte ich nicht, dass diese Entscheidung die Tür für einen neuen Lebensabschnitt werden würde.
Währenddessen spürte mein Mann immer deutlicher, dass er auf Dauer nicht die Verantwortung für zehn Mitarbeiter im Büro und große Bauprojekte bewältigen und gleichzeitig an vielen Abenden und an jedem Wochenende für Menschen, ihre Fragen und Nöte da sein konnte. Auch für ihn war eine Entscheidung dran. In der Stille reiften Gedanken in ihm. Er sah sich mehr zur „Innenarchitektur von Menschen“ gerufen als dazu, Häuser auf- oder umzubauen, obwohl er seinen Beruf sehr liebte. Gedanken von Dietrich Bonhoeffer waren ihm Herausforderung und Richtung geworden: „Die entscheidende Frage ist nicht, wie ich mich heroisch aus der Affäre ziehe, sondern wie eine nächste Generation weiterleben soll. Von der Auferstehung her kann ein neuer Wind in die gegenwärtige Welt wehen. Wenn ein paar Menschen dies wirklich glaubten und sich in ihrem irdischen Handeln davon bewegen ließen, würde vieles anders werden.“
Wir hatten die Entstehung der OJC-Großfamilie aus nächster Nähe erlebt und sahen, mit welch kleinen Kräften das Ehepaar Hofmann Glaube und Hoffnung in die Herzen von jungen Menschen aussäte. Wir wollten mithelfen. Und nach einigen Gesprächen hin und her beschlossen wir, unser bürgerliches Leben zu verlassen.
1972
sind wir mit unseren zwei kleinen Kindern in die Großfamilie gezogen. Wir wussten nicht, wie lange dieses Experiment dauern würde, aber wir hatten keine Furcht davor, obwohl die Zukunft unsicher war. Wir würden kein Architektengehalt mehr haben, sondern ein kleines Taschengeld, denn die OJC lebte schon damals nur von Spenden. Wir riskierten uns im Vertrauen auf Gottes Verheißung: Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und einer Lebenshaltung, die ihm entspricht, dann wird euch alles andere zufallen (Mt 6,33). Noch ahnten wir nicht, wie er sein Versprechen wahr machen würde. Wir erlebten es in den folgenden Jahrzehnten: Uns fielen Wohnraum, Kleidung, Musikunterricht für unsere Kinder, Urlaube, Autos, Möbel und vieles mehr zu – oft ohne unser Dazutun. Auch große und herausfordernde Bauprojekte für meinen Mann. Dabei ließ Gott unser Leben und unsere Familie zu einem Raum der Ermutigung und Heimat für andere werden – besonders für junge Menschen.
2000
Aber unser Glaube musste sich immer wieder bewähren. Das geschieht besonders in Konflikten und Krisen. Aus der Großfamilie war inzwischen eine Gemeinschaft von fast 100 Menschen in fünf verschiedenen Zentren geworden. Wir trugen Leitungsverantwortung und übernahmen eine Fülle von Aufgaben. Während die Gemeinschaft äußerlich schnell wuchs, geriet das innere Vertrauen zur Leiterschaft in eine schwere Krise. Misstrauen kam auf, Beschuldigungen und Vorwürfe verwirrten und verunsicherten uns und Freundschaften zerbrachen. All das machte meinen Mann mehr und mehr sprachlos und stumm. Es kam eine Zeit, in der ich ihn sogar davon zu überzeugen suchte: „Lass uns hier weggehen, sonst wirst du depressiv.“ Ich begann, mich über Stellen und Aufgaben zu informieren. Mein Mann sah seinen Platz jedoch trotz aller Schwierigkeiten ganz deutlich weiterhin in der OJC. Oft wussten wir beide nicht weiter und konnten nur abwarten, aushalten und beten.
Gemeinsam feierten wir während einer Mitarbeiterretraite einen Gottesdienst mit verschiedenen meditativen Elementen. Er brachte für Hermann die Wende. Er erzählte: „In diesem stillen Gottesdienst ist mir klar geworden, dass ich gegen die ungerechten Anschuldigungen niemals ankommen kann und nur frei davon werde, wenn ich sie alle auf das Kreuz Christi lege. Das habe ich, zusammen mit einem Seelsorger, getan. Alle Vorwürfe und meinen angesammelten Groll habe ich dort abgelegt. Von diesem Tag an war noch nicht alles anders, aber meine Verzweiflung, Ohnmacht und meine ständigen Schuldgefühle schwanden. Ich ging wieder aufrecht. Ich wusste mich im Letzten nur Christus verantwortlich und sonst niemandem. Meine Ideale konnten zerbrechen, Christus blieb. Mit Ihm will ich weitergehen, auch wenn ich meinen guten Ruf nicht retten konnte und mitverantwortlich war an schwierigen Entwicklungen.“ Dieses Geschehen befreite sein Leben so radikal wie schon einmal vor 40 Jahren. Es schenkte ihm neu die Erfahrung von innerem Frieden und Versöhnung mit sich selbst und auch mit anderen.
Wir sind nicht weggegangen, sondern haben ein neues Ja zu Gottes Berufung und zu dieser Gemeinschaft gefunden. Dieses zweite Ja musste durch viel Ernüchterung hindurch. Aufrichtige Freude und eine neue Gewissheit sind uns zugewachsen: Für die Ströme lebendigen Wassers sorgt der Heilige Geist und nicht wir oder besondere Menschen. Ihm vertrauen wir die Zukunft an.
2008
Die Gemeinschaft wandelt sich: Neue Mitarbeiter, die zu uns stießen, kannten die Anfänge längst nicht mehr. Nun wurden wir „Alten“ zu Zeugen für die, die in das gemeinsame Leben hineinwachsen wollten. Es entstand die „Grammatik“, die die Grundlagen des gemeinsamen Lebens zum ersten Mal beschrieb. Aufgebrochen als eine Gemeinschaft auf Zeit, sind wir zu einer Gemeinschaft auf Lebenszeit geworden. Diesmal haben wir unsere Lebenshingabe nicht allein oder zu zweit, sondern mit 23 Gefährten, Ledigen und Verheirateten, vor Gott ausgesprochen und in unserer Kapelle auf Schloss Reichenberg den Bund geschlossen, gemeinsam Gott und den Menschen für den Rest unseres Lebens in dieser Gemeinschaft zu dienen, wo immer er uns brauchen würde. Wir gründeten die Kommunität. Das war nötig, um der gemeinsamen Zukunft willen.
2018
Und wieder lag vor uns ein Neuanfang. Es begann mit Gesprächen darüber, wie wir gemeinsam alt werden wollen und den Jüngeren auf gute Weise Platz machen und gleichzeitig Unterstützung geben könnten. Wir beschlossen, ein Mehrgenerationenhaus zu bauen. Altersgerecht. Inzwischen wohnen wir dort. Sieben Ledige, zwei Ehepaare und zwei Familien mit Kindern sind eingezogen. Wir haben eine neue Nähe zueinander. Das macht gegenseitige Unterstützung leicht, ist aber auch herausfordernd.
Wir Alten lernen, Aufgaben abzugeben, an den Rand zu ziehen und uns an der nächsten Generation von Verantwortungsträgern zu freuen. Alles hat seine Zeit. Unsere Lebenszeit ist begrenzt. 2003 und 2015 haben wir endgültig Abschied nehmen müssen von zwei langjährigen Gefährten, Irmela Hofmann und Ite Zimmerer, mit denen wir unser Leben geteilt hatten.
Aufrichtigkeit, Vertrauen, Vergebung und Versöhnung ermöglichen immer wieder einen Neuanfang im Miteinander. So war es und so wird es auch in Zukunft bleiben.