
Konfrontation mit dem Schutzengel
Kürzlich saß ich in entspannter Feierrunde im Kreis einiger Studenten. Es war die Hochzeit meines zweitjüngsten Bruders. Das Ambiente war geschmackvoll alternativ, die Gäste witzig und intelligent, der Smalltalk charmant und heiter. „Und, was geht bei euch so? Ihr lebt doch in so ’ner Gemeinschaft mit?“ Die Frage ging an mich, und ich entschied mich für den unverblümten Weg: „Ja, genau. Wir sind jetzt seit sechs Jahren bei der Offensive Junger Christen in Reichelsheim. Und wir werden im Oktober in diese Gemeinschaft eintreten. Verbindlich und lebenslänglich.“ Das traf. Nach der ersten Schockstarre kam ein verhaltenes „wow“ und „krass“. Inzwischen ist es wahr geworden. Mein Mann Gerd und ich haben die Fragen, die uns in das verbindliche Leben im Kreis der Gemeinschaft eingeladen haben, mit „Ja, ich will, und Gott helfe mir“ beantwortet. Wir wurden herzlich aufgenommen in den Kreis der Gefährten und mit einem rauschenden Fest willkommen geheißen. Noch ist der neue Ring, den wir am Finger tragen, ungewohnt, aber wir tragen ihn mit Freude und Stolz. Und wir sind uns auch durchaus bewusst, dass das tatsächlich ganz schön „krass“ ist, auf was wir uns da eingelassen haben. Auch bevor wir in die Gemeinschaft kamen, war unser Leben nicht sehr gewöhnlich gewesen.
Als blutjunges Ehepaar hatten wir uns in das windige und weite Patagonien rufen lassen um dort, im Süden Argentiniens, den Aufbau einer Arbeit unter Alkoholikern zu unterstützen. Horizonterweiterungen und Grenzerfahrungen waren unsere täglichen Begleiter. Drei wunderbare Kinder sind uns dort geschenkt worden. Insgesamt fast acht Jahre Leben in dieser ganz anderen Welt oder zwischen den Kontinenten lagen hinter uns, als die Frage laut wurde: Wie geht es weiter bei uns? Wofür schlägt unser Herz, wohin zieht uns unsere Sehnsucht?
Für uns unmissverständlich und überwältigend klar bekamen wir die Antwort: Es geht zur OJC nach Reichelsheim.
Der Aufprall ließ nicht lange auf sich warten
Das gemeinschaftliche Leben hatte uns schon seit vielen Jahren gelockt und wir hatten einzeln und miteinander verschiedene Gemeinschaftserfahrungen gesammelt. Jetzt knüpfte Gott an diese alte Sehnsucht an. Nach den kräftezehrenden Pionierjahren in der Suchtarbeit kamen wir mit einem großen Bedürfnis nach Zugehörigkeit, nach Heimat und Gemeinschaft bei der OJC an. Wir freuten uns auf geistlichen Input und geistiges Futter. Noch nie hatten wir als fünfköpfige Familie richtig in Deutschland gelebt. Und wir hatten die riesige Gewissheit im Gepäck, dass Gott uns an genau diesen Platz gerufen hatte. Freudig und herzlich wurden wir empfangen und aufgenommen und genauso freudig gaben wir uns sofort in den neuen Lebens-Rhythmus hinein: Mittagsgebet, Austausch, Abendmahl, Lebensgruppenabend, Kommunitätstage und -wochen waren einige der regelmäßigen Termine auf unserer Agenda. Dazu kamen etliche Essensgäste und Einladungen an andere Tische. Der neue und gut gefüllte Alltag wurde außerdem ständig ergänzt durch zahlreiche Besonderheiten und Ausnahmen. Ob zu Festzeiten, Tagungen, Gottesdiensten oder einfach zwischendurch gab und gibt es hier viele Gäste aus aller Welt, Besucher von nah und fern, die Begegnung und Gemeinschaft suchen. Der Aufprall ließ nicht lange auf sich warten. Das dichte Gemeinschaftsleben mit den unterschiedlichen Menschen, die mich umgaben, verursachte heftige emotionale Turbulenzen und rüttelte unsanft an meiner freundlichen Ich-bin-kompetent-und-hab’s-im-Griff-Fassade. Ein Bonhoeffer-Wort kam mir in den Sinn: „Wer seinen Traum von einer christlichen Gemeinschaft mehr liebt als die christliche Gemeinschaft selbst, der wird zum Zerstörer jeder christlichen Gemeinschaft, ob er es persönlich noch so ehrlich, noch so ernsthaft und hingebend meint.“
Spielwiese innerer Konflikte
Altbekannte Themen tauchten aus der Versenkung auf: Vergleichen, Neid, die Angst, zu kurz zu kommen, und immer wieder die Frage nach meinem Raum und meinen Grenzen. Gespiegelt wurde das oft in meinen Ängsten um die Kinder und der großen Sorge, ob sie ihren Raum finden und bekommen. Dabei war unser gemeinsamer Garten, in dem sich neben Kater, Hund und Kaninchen insgesamt acht Erwachsene, acht Kinder, deren Freunde und mit ihnen unsere unterschiedlichen Erziehungsstile tummelten, so etwas wie die Spielwiese meiner inneren Konflikte.
„Der Nächste steht uns in Wahrheit nicht im Wege, sondern er steht am Rand des Abgrunds, als Schutzengel, der uns hindert, aus den Realitäten hinaus in die Illusion zu treiben.“ Dieser Satz von Paul Schütz war hier irgendwie allgegenwärtig. Wie gern hätte ich so manchem „Schutzengel“ ab und an gern einen kleinen Tritt verpasst, damit er mir nicht so im Weg rumsteht. Die Unausweichlichkeit der Konfrontation mit mir selbst und meinen „Schutzengeln“ empfand ich als unglaublich mühsam. Bei der Mentorin, die mir zur Seite gestellt war, hatte ich einen Platz des Gehört- und Verstandenseins. Das war überlebenswichtig für mich in den ersten Jahren. Ich übte zaghaft, mich zuzumuten mit allem, was ich mitbringe – auch und gerade mit den nicht so gefälligen Seiten und streitenden Kindern. Ich durchlitt die ersten Konflikte und wagte vorsichtig, mich verletzlich zu machen. Gleichzeitig versuchte ich, meine eigenen Grenzen klarer wahrzunehmen und sie vor allem auch wahr sein zu lassen. Dabei ist mir unser wöchentlicher Abendmahlsgottesdienst ein wertvoller Alltagsbegleiter geworden. Ich liebe es, Freitagmorgens still den Schlossberg hochzulaufen und all die Dinge und Menschen im Herzen mitzubringen, die mich beschäftigen und beschweren, und sie zu Ihm zu tragen. Schuld und Verletzung einzutauschen gegen Vergebung und Seinen Frieden. Das ist tatsächlich das, was uns im Tiefsten zusammenhält. Und wenn wir einander diesen Frieden weitergeben, ist das viel mehr als ein frommer Gruß. Woche für Woche erlebe ich es als spürbar gelebte Versöhnung. „Im Abendmahl empfangen wir, was wir sind: Leib Christi; und werden, was wir empfangen: Leib Christi“ (Augustinus). Dass dies nicht nur ein schönes Nebenprodukt, sondern Teil unseres gemeinschaftlichen Auftrags ist, empfinde ich als einen großen Schatz des gemeinsamen Lebens.
Frauenaustausch
Auch unser wöchentlicher Austausch ist so ein Herzstück unseres Miteinanders. Dienstagmorgens tauschen wir Frauen aus unserer Lebensgruppe aus. Lebensgruppen sind die kleinen Gemeinschaftszellen in Hauskreisgröße, in die wir uns aufgeteilt haben, um einander im großen Gemeinschaftsgetümmel besser im Blick zu haben. Wir sind sieben Frauen, die in direkter Nachbarschaft leben. „Frauenaustausch“ nennt man das dann. Ein französischer Freund hat uns anfangs leicht irritiert darauf angesprochen: Er kenne nur Frauentausch und Schüleraustausch, aber was wir denn bitte bei einem „Frauenaustausch“ machen. Auch wenn wir nur ganz harmlos beieinander sitzen, kann das anfangs schon befremdlich sein, wenn man frühmorgens sein Innerstes mit einem Grüppchen Menschen teilt, die nicht mal eine Reaktion zeigen. Es gehört nämlich zu den „Austauschregeln“, das Gesagte nicht zu kommentieren. Für intuitive Anpassungskünstler wie mich war das eine echte Lernzone. Wie finden die das, was ich sage? Haben sie’s überhaupt verstanden? Müsste ich mich nicht noch mehr erklären? Ich meinerseits verstand oft nicht die Hälfte von dem, was die anderen sagten. Inzwischen möchte ich diesen vertrauten Raum längst nicht mehr missen. Wo sonst habe ich Gelegenheit, so dicht Anteil zu nehmen am Leben und der Jesus-Beziehung der anderen? Und was für ein schöner Übungsraum, zu meiner Stimme zu finden, das stehen zu lassen, was gesagt ist, ohne es zu bewerten, zu korrigieren oder zu beschönigen. Und dabei freier zu werden von der Reaktion und dem Verständnis der anderen. Der Satz aus dem Assoziiertenkurs, in dem wir die Frage einer Berufung auf Lebenszeit prüfen: „Erst wenn wir uns und die anderen als Licht und Finsternis annehmen, ist Gemeinschaft möglich“, war so etwas wie meine Grundlektion im Gemeinschaftsleben. Und zum Glück darf ich ja noch weiterüben.
Unberechenbarer aber liebenswerter Haufe
Als Familie in Gemeinschaft leben heißt auch, die kleine Familiengemeinschaft und die große Gemeinschaft im Blick zu haben. Manchmal berühren sie sich und befruchten sich gegenseitig, wie bei unseren schönen und bunten Gottesdiensten oder Festen. Manchmal fühlen sie sich auch wie zwei völlig unterschiedliche Planeten an. Eine typische Planetenkollision sieht ungefähr so aus: Auf dem Familienplanet tobt der Bär, die Kinder haben ihr Engelwesen kurzzeitig an den Nagel gehängt, kommen geladen von der Schule und müssen emotional aufgebaut werden. Die Kartoffeln wollen nicht weich werden, weil die Mutter des Hauses zu spät aus irgendeiner Teamsitzung nach Hause kam und der Boden klebt. Da öffnet sich die unverschlossene Glastür und der Gemeinschaftsplanet tritt ein in Form von lieben Nachbarn, die das Auto, ein Ei oder eine Auskunft brauchen und von FSJlern, die zum Mittagessen angemeldet sind. Und Piratenkater Mio legt vom Katzenplaneten noch eine tote Maus dazu. Der Vollständigkeit halber. Ja, dann… müssen wir uns daran erinnern, dass es das ungeschönte, echte Leben ist, das wir teilen und dass Jesus hier wie dort mittendrin ist. Und wir erinnern uns daran, dass unsere Kinder nicht einfach auch noch „hineinpassen“ müssen in unseren dynamischen Alltag, sondern dass sie geschützte Räume und Prioritäten-Plätze brauchen und einfordern dürfen. Und dass wir gefragt sind, darin beweglich und hörend zu bleiben. Denn morgen kann alles schon wieder ganz anders sein.
Wir haben uns auf Lebenszeit mit einem ziemlich unberechenbaren, teilweise chaotischen, höchst heterogenen aber auch äußerst liebenswerten Haufen Menschen verbunden. Darunter sind in die Jahre gekommene Alt-68er und Leute wie wir, die noch nicht einmal geboren waren zur Zeit der hitzigen Diskussionen und feurigen Aufbrüche. Es gibt bei uns evangelische Landeskirchler sowie Katholiken und Freikirchler, Singles, Ehepaare und Familien. Wir haben Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Backgrounds und Vorerfahrungen. Es gibt unter uns Hitzköpfe und Vermittler, Pioniere und Bewahrer, gewandte Redner und geduldige Hörer, Lobpreiser und Hoch-Liturgen. Und jetzt gibt es da auch noch uns … An sich ein schier unmögliches Unterfangen, gemeinsam auf dem Weg zu sein und vor allem zu bleiben. Und gleichzeitig ein sichtbares Zeugnis für den, der unsere Mitte ist, der uns trägt, erträgt und im Tiefsten verbindet, weil wir uns an Ihn gebunden haben: Jesus Christus.