Vorbehaltlos zugewandt – klar positioniert. Wie eine Anfrage zur persönlichen Berufung wurde. Bild zu Christl Vonholdt.

Vorbehaltlos zugewandt – klar positioniert

Vorbehaltlos zugewandt – klar positioniert. Wie eine Anfrage zur persönlichen Berufung wurde.

Im Herbst 1993 kam ich nach einem mehrjährigen Einsatz als Kinderärztin in KwaZulu/Südafrika nach Reichelsheim
zurück. Was nun? Bald fragte mich die OJC an, ob ich sie eine Zeit lang unterstützen und mit anderen zusammen ein Symposion zum Thema „Homosexualität und christliche Seelsorge“ organisieren könnte. Seit 1979 hatte die OJC Kontakt zu Männern und Frauen, die ihre homosexuellen Empfindungen als nicht stimmig für sich und ihre Identität erlebten und Veränderung in ihrem Leben suchten. Zahlreiche Tagungen mit Betroffenen und einem erfahrenen Psychotherapeuten hatte es dazu auf Schloss Reichenberg gegeben. Jetzt, so die OJC, bräuchten sie jemanden, der sich intensiver mit den biologischen, sozialwissenschaftlichen und therapeutischen Forschungen befassen würde. Ich sagte zu, nicht wissend, was sich daraus entwickeln würde. Im halb renovierten Jugendzentrum fand dann im Jahr darauf die Tagung statt. Zweihundert Teilnehmer, hochkarätige Referenten, erfahrene Therapeuten und „Ex-Betroffene“ aus aller Welt waren gekommen. Was danach geschah, war für uns alle überraschend: Es folgte eine Einladung nach der anderen zu Seminaren und Vorträgen über Sexualethik und seelsorgerliche Hilfen – in die USA, nach England, Harare (Weltkirchentag), Polen und Deutschland. Wir reisten im Team und oft war jemand dabei, der selber einen Weg aus homosexuellen Neigungen heraus gefunden hatte und aus persönlicher Erfahrung referierte. „Konstruktive Alternativen lassen aufhorchen“, dieses Grundwort der OJC begleitete uns.

Niemals in Schubladen denken

Es stellte sich bald heraus, dass das Thema Homosexualität nur die Spitze des Eisbergs war. In Wirklichkeit ging es um viel tiefer liegende Themen, um einen großen Komplex von untrennbar verwobenen Aspekten: Identitätsentwicklung von Kindern und Jugendlichen; Bedeutung der Bindung für die kindliche Entwicklung; Geschlecht und Sexualität; Auseinandersetzung mit Gender-Theorien; Ehe und natürliche Familie; jüdisch-christliche Sexualethik; Identität und Trauma; Homosexualität; Bisexualität; Transsexualität. Das Privileg unseres Instituts, Teil einer ökumenischen Kommunität zu sein, brachte es nicht nur mit sich, dass ich sehr viele Gespräche mit betroffenen Männern und Frauen führte, sondern auch, dass einige von ihnen für kurze oder längere Zeit bei uns mitlebten. So zog ein Stricher für drei Monate zu uns, der sagte, bei uns habe er seine menschliche Würde wiedergefunden. Für einige Jahre kam eine Frau, die nach ihrer „Geschlechtsumwandlung“ als Mann gelebt hatte und dann den Weg zu ihrer ursprünglichen, weiblichen Identität, zu der „verschütteten Frau“ in sich suchte und fand. Männer und Frauen, die sexuellen Missbrauch als Kind erlitten hatten, suchten bei uns Rat. Jede einzelne Lebensgeschichte war unendlich kostbar und lehrte uns, niemals in Schubladen zu denken.

Rechte und Wohl der Kinder im Blick behalten

2004 konnten wir für den Deutschen Bundestag eine Stellungnahme gegen das geplante (und später von der rot-grünen Regierungsmehrheit durchgesetzte) Adoptionsrecht für homosexuell lebende Paare verfassen. Hat das Kind ein Recht auf Vater und Mutter? Was ist der grundlegende Unterschied zwischen einem Kind, das tragischerweise ohne Mutter oder Vater aufwächst, und einem Kind, dem man von vornherein erzählt, „zwei Erwachsene“ genügten und das Geschlecht der „Eltern“ sei unwichtig? Hat das Kind ein Recht darauf, mit seinem Vater verbunden zu bleiben, auch wenn die Mutter in einer lesbischen Partnerschaft lebt, und die Partnerin deshalb kein Recht hat, das Kind „als das ihre“ zu adoptieren? Gerade hier wäre aus meiner Sicht vom Gesetz her die Bindung zum Vater zu stärken. Hat das Kind ein grundlegendes Recht darauf, mit seinem männlich-weiblichen Ursprung verbunden zu bleiben, oder kann sein intuitives Wissen um diesen Ursprung manipuliert werden, indem man ihm sagt, es habe „zwei Mütter“? In England ist es möglich, dass in der Geburtsurkunde lediglich zwei Frauen als die „Eltern“ auftauchen, in Deutschland wird das jetzt (2017) gefordert. Vaterlosigkeit, das zeigen sämtliche Studien der letzten vierzig Jahre, ist mit erheblichen Risiken für die psychosoziale Entwicklung und Gesundheit des Kindes verbunden. Ich erinnere mich gut an eine Veranstaltung, bei der ich mich gegen ein Adoptionsrecht für homosexuell lebende Paare aussprach. Plötzlich stand ein massiver Männerhass von Seiten der anwesenden Frauen im Raum. Woher rührt diese Ablehnung und Feindseligkeit dem Väterlichen und dem Männlichen gegenüber? Es hat mich sehr nachdenklich gemacht. Unvergesslich bleibt mir auch unser Interview im Jahr 2000 mit dem über siebzigjährigen Psychoanalytiker Charles Socarides. Wir wussten, dass sein Sohn zur Homosexuellenbewegung gehörte. Socarides war der Auffassung, dass die Entwicklung homosexueller Gefühle beim Jungen mit der „Abdankung des Vaters“ in der Familie zu tun haben kann, und wies behutsam auch auf seine eigene Geschichte als junger Vater in einer jungen Familie hin.

Gegen den Mainstream denken

Als Institut setzten wir uns weiter für diese Themen ein: Beratungs-, Therapie- und Forschungsfreiheit; Selbstbestimmungsrecht von Menschen, die sich eine Abnahme ihrer homosexuellen Gefühle und/oder eine Aussöhnung mit ihrer weiblichen oder männlichen Leiblichkeit wünschen; Vorrangstellung der Ehe als der Verbindung zwischen Frau und Mann vor anderen sexuellen Lebensformen; Recht des Kindes auf Mutter und Vater. Doch dieser Einsatz wurde politisch immer inkorrekter. Nicht die Faktenlage, wohl aber das gesellschaftspolitische Klima hatte sich gewandelt.Der christliche APS-Kongress in Marburg 2009 musste durch eintausend Polizisten geschützt werden, weil er mir und zwei anderen Referenten jeweils ein Seminar zugesagt hatte. Therapeuten, die noch offen sind für die Möglichkeit einer Abnahme homosexueller Gefühle in der Therapie, müssen damit rechnen, öffentlich lächerlich gemacht zu werden. 2007 wurden die „Yogyakarta-Prinzipien“ als ein Manifest der LGBT-Bewegung 1 veröffentlicht. Darin wird gefordert, dass Kinder und Jugendliche selber festlegen können, ob sie ein Junge oder ein Mädchen sein, ob sie homosexuell, bisexuell oder transsexuell leben möchten. Wenn die Eltern diese Wünsche nicht unterstützen, soll der Staat eingreifen. In Großbritannien konnte ich mit den Eltern einer Vierzehnjährigen sprechen. Das Jugendamt, so die Mutter, übe Druck auf sie aus. Man würde ihnen das Mädchen wegnehmen, wenn sie es nicht mit Jungennamen anreden. In Kanada wurde einem Vater, der sich weigerte, seine elfjährige Tochter mit Jungennahmen anzureden, dies per Gerichtsbeschluss auferlegt. 2015 wurde in Nordirland ein Bäcker zu einer Geldstrafe an die LGBT-Bewegung verurteilt, weil er sich aus Gewissensgründen weigerte, eine Hochzeitstorte mit der Aufschrift: „Unterstütze homosexuelle Ehe“ zu backen. Unter dem Deckmantel sexueller Freiheit wird das Recht auf Meinungs- und Religionsfreiheit zunehmend eingeschränkt.

Das Saatgut bewahren

Wir lebten und arbeiteten in der Spannung zwischen vorbehaltloser Zuwendung dem Einzelnen gegenüber, egal für welchen Lebensweg er sich entscheidet, und der Erfahrung, dass der gesellschaftliche Raum für unsere Auffassung von Sinn und Ziel menschlicher Sexualität kleiner wurde. In all diesen Jahren war mir die Erzählung „Der Druide“ von Jeremias Gotthelf, die zu vorchristlicher Zeit spielt, ein innerer Wegweiser: Ein Schweizer Stamm wandert auf der Suche nach einem besseren Leben und Reichtum nach Gallien aus. Als sie um Eingang in das Land bitten, werden sie in einen Hinterhalt gelockt und müssen um ihr Leben kämpfen. Schließlich kommen sie verarmt und ausgehungert zurück, viele sind umgekommen. Nur ein Großvater und ein Kind waren zu Hause geblieben, der Heimat und dem Erbe treu, allen Bitten und Protesten der Verwandten zum Trotz. Sie säten und ernteten und hüteten auf diese Weise den kostbaren Samen, pflegten die Gerätschaften und legten Vorräte an. Sie lebten ein Alltagsleben. So konnten sie die nach Hause Zurückkehrenden gastlich bewirten und ihnen einen Neuanfang ermöglichen.

Die Erzählung lässt sich vielfältig deuten. Aber eine Kultur, die ihren christlichen Wurzeln den Rücken kehrt und einer Ideologie nachläuft, die „sexuelle Befreiung“ verspricht, und dabei ihre Kritiker erbarmungslos verfolgt, wohin führt sie? Und gibt es Menschen, die „zu Hause“ bleiben? Auch dies ist eine vielschichtige Metapher. Judith Butler, Vertreterin der Genderideologie, sagte in einem Interview in 2009: „Es heißt dann, wir sollen uns in unserem Körper zuhause fühlen … ich glaube nicht daran.“ Wird es Menschen geben, die irgendwann wieder Verwurzelung suchen, Verwurzelung in ihrer eigenen Leiblichkeit, Verwurzelung in der uns von Gott gegebenen, lebenstiftenden Identität? Gibt es Menschen, die nicht mitlaufen, sondern das jüdisch-christliche Erbe, sein einmaliges Ethos des Lebens, hüten, auch und gerade im Bereich der Sexualethik? Menschen, die sich in aller eigenen Schwäche für die Heiligkeit der Ehe einsetzen, diese einzigartige Friedensbrücke zwischen Frau und Mann und den Generationen?
Für die Menschen, die bei uns Orientierung und Unterstützung suchten, jeder einzelne unendlich kostbar, habe ich mich gerne eingesetzt.

1969 gründete die OJC das Deutsche Institut für Jugend und Gesellschaft (DIJG), um die Erfahrungen aus der Praxis des geteilten Lebens, Arbeitens und geistlichen Reflektierens im regen Austausch mit Experten aus Kirche und Universität in den gesellschaftlichen und akademischen Diskurs zu bringen. Als Leitsatz dient das Bonhoeffer-Wort von 1943: Die letzte verantwortliche Frage ist nicht, wie ich mich heroisch aus der Affäre ziehe, sondern wie eine kommende Generation weiterleben soll. Das breite Themenspektrum der fünf Jahrzehnte umfasst die empirische und publizistische Arbeit über Jugendreligionen und -sekten, Völkerverständigung und Versöhnung, interkulturelles Lernen, Dialog der monotheistischen Religionen sowie Identität und Geschlecht im postmodernen Wertediskurs.


  1. LGBT: lesbisch, gay (schwul), bisexuell, transgender/transsexuell. 

Cookie-Einstellungen

Bitte wählen Sie aus, welchen Cookie-Kategorien Sie zustimmen möchten.