
Erfolg ist kein Name Gottes
Ich bin in einer gläubigen Familie aufgewachsen. In einer meiner frühesten Erinnerungen knie ich in meinem Gitterbett und versuche, selbst den aaronitischen Segen zu beten, den unsere Eltern jeden Abend über uns Kinder sprachen. Mit Gott zu reden, seine Gegenwart zu spüren, Jesus als besten Freund zu haben, war mir von Kind an selbstverständlich. Ein tiefer geistlicher Hunger prägte mich. Als 12-Jährige wusste ich, dass ich eine Berufung zum „geistlichen Dienst“ hatte. Mir war klar, ich werde Kindermissionarin!
Eines Tages, ich war damals 17, geschah dann etwas sehr Eigenartiges: Gott, um dessen Gegenwart ich all die Jahre wusste und sie spüren konnte, verschwand wie in einem Nebel. Er war nicht mehr sichtbar, nicht mehr berührbar, nicht mehr erreichbar für mich. Verzweifelt versuchte ich, das Gefühl seiner Gegenwart wiederzufinden. Es ging nicht. Nach Wochen vergeblicher Suche wandte ich mich schließlich meinerseits enttäuscht und trotzig von Gott ab. Ich versuchte nun, ohne ihn zu leben. Aber auch das ging nicht. Da war ein innerster Ort in meinem Herzen, den nichts anderes füllen konnte. Es begann ein fünf Jahre dauerndes, sehr anstrengendes Hinundher: Gottessehnsucht und Gottesablehnung, Schritte auf ihn zu und Flucht vor der Leere, die ich in den mir angebotenen Gottes-Konzepten empfand. Nirgends konnte ich den lebendigen Gott wiederfinden, den ich doch aus meiner Kindheit und frühen Jugend kannte.
In diesen Jahren machte ich Abitur und kam 1984 zur OJC. Aus geplanten drei Monaten dort wurde ein Jahr im Bau- und Gartenteam, in der Küche der Großfamilie und im Empfang. Mir, dem etwas seltsamen, ernsten jungen Mädchen, tat die handwerkliche Arbeit einfach gut: Nach all den theoretischen Schuljahren und den existentiellen Beschäftigungen mit meiner inneren Suche ging es zur Abwechslung mal um Hammer und Nägel, um Steine und Mörtel, um Sense und Salat. Wie gut, dass es eine Realität außerhalb meines Denkens und Fühlens gab! Ich genoss es, die Ergebnisse meiner Mühen handgreiflich vor mir zu sehen: das gedeckte Dach, die eingezogene Mauer, die gekelterten Fässer Apfelsaft… Leider gelang dabei nicht alles so gut. Noch jahrelang schüttelten Gäste den Kopfüber die „hingepatzten“ Silikonfugen in einem Bad. Und Dierk Hein, der Bauleiter, begutachtete ein anderes meiner Tagewerke mit einem Seufzen: „Jetzt ist wenigstens in allen Gästezimmern die Wandverkleidung schief!“ Bis heute begleitet und ermutigt mich ein häufiger Satz der OJC-Mitarbeiter: „Jeder hat ein Recht auf seine eigenen Fehler!“ Von diesem Recht habe ich seither ausgiebig Gebrauch gemacht.
In der Zeit bei der OJC „überlistete“ Gott mich, ein Theologiestudium zu beginnen: Er ließ mir während der Bewerbungsfrist Tag und Nacht keine Ruhe; ich konnte die Bewerbungsunterlagen für einen anderen Studiengang einfach nicht abschicken. Schließlich gestand ich mir (und Gott) ein, dass ich um Theologie nicht herumkam, schrieb mich dafür ein und fand erstmal wieder Frieden.
Hoffnungsvoll begann ich das Studium. Die alten Sprachen der Bibel zu lernen war faszinierend. Sorgfältige Textanalyse, Denken in systematischen Begriffen, Beschäftigung mit den Antworten und Fragen, die Menschen vor mir gefunden hatten – all das war ausgesprochen interessant. Aber zu meiner Enttäuschung blieb mein existentielles Suchen nach einer neuen Gottesnähe immer noch unerfüllt. Nach einigen Semestern war ich am endgültigen Ende meiner Hoffnung. Seit fünf Jahren nun suchte ich Gott und konnte ihn nicht finden. So wollte und durfte ich keine Pfarrerin werden! Am nächsten Tag würde ich ins Studentensekretariat gehen und meinen alten Plan von einem anderen Studiengang in die Wege leiten. In diesem Moment sprach Gott in mein Herz, so klar wie nie vorher oder seither: „Deine Beziehung zu mir ist mein Problem, nicht deines. Und du machst mit diesem Studium weiter!“ Dieses Reden kam mit so viel Autorität, dass Zweifeln oder Diskutieren unmöglich war. Ein halbes Jahr später kam ich dann in Kontakt mit der charismatischen Bewegung. Ich brauchte alle innere Kraft, die ich hatte, um noch einmal das Wagnis einer neuen Öffnung für Gott einzugehen. Aber diesmal wurde ich nicht enttäuscht. Seine Nähe berührte mich neu, all die Formen des Glaubens, die ich seit meiner Kindheit kannte, wurden wieder mit Leben erfüllt, der Glaube wurde zum Fest. Und das Studium wurde jetzt erst richtig spannend!
Mitten im anschließenden Vikariat in einer kleinen evangelischen Landgemeinde lernte ich Manfred kennen; gegen Ende meines Vikariates heirateten wir. Ich wusste nun, ich „kann“ Pfarramt, aber es entsprach nicht meiner Persönlichkeit und meinen Gaben. Ich würde eine Rolle spielen müssen. So entschied ich mich, ohne Anstellung durch die Kirche, aber mit einer kirchlichen Ordination „im Ehrenamt“ in der ökumenischen Gemeinschaft in der Großstadt mitzuarbeiten, die Manfred schon seit einigen Jahren zusammen mit anderen leitete. Unsere zwei Kinder wurden in dieser Zeit geboren. Später arbeiteten wir dann einige Jahre in einer Gemeinde in der Nachbarstadt. Wir erlebten zwanzig spannende Jahre in wachsenden Gemeinschaften, durften Menschen begleiten und schulen und in eine tiefere Glaubensreife führen. Zunehmend wurden wir auch auswärts zu Seminaren und Vorträgen eingeladen. In den Leitungsteams der Gemeinden ergänzten wir uns mit den anderen durch unsere sehr unterschiedlichen Gaben. Beide Gemeindezeiten endeten aber in dramatischen, zutiefst schmerzhaften Krisen. Unterschiedliche Vorstellungen, Erwartungen und Unterstellungen gewannen eine schreckliche Dynamik, an der die Beziehungen im Team und weit darüber hinaus zerbrachen. Wir verloren beide Male unsere Anstellung, unser finanzielles Auskommen, unsere Gemeinde, viele Freunde und unseren guten Ruf in der Stadt als „geistliche Leiter“.
Und ich verlor in der ersten Krise meine psychische Gesundheit. Ich rutschte in eine tiefe und verzweifelte Depression. Nichts war mehr geblieben von der Nähe Gottes. Mein Kopf wusste um seine Gegenwart, aber mein Herz fiel in einen schwarzen Abgrund, ohne dass irgendetwas mich auffing.
In einer Therapie wurde mir langsam bewusst, dass sich alte Lebenswunden aus der frühesten Kindheit, denen ich nie eine Bedeutung beigemessen hatte, nun in die schweren Ereignisse der Gegenwart hineinmischten. Auf einem längeren Heilungsweg kam das Licht Gottes in die Vergangenheit und half, die Gegenwart konstruktiv zu bewältigen.
In dieser schweren Zeit hörte ich monatelang halbbewusst ein Reden Gottes, ehe ich wagte, es ins Bewusstsein kommen zu lassen. Es schien so ungeheuerlich: „Ich bin stolz auf dich! – Weil du meine Tochter bist!“ Wie unglaublich! Nichts musste ich tun, nichts musste ich beweisen. Er liebt mich, wie ich bin, in meinem ganzen Elend, Versagen und Zerbruch.
Nach der Kündigung durch die zweite Gemeinde gingen wir 2010 den Schritt in die Selbständigkeit. Mit den Jahren hatte sich gezeigt, dass unsere Hauptbegabung das Lehren ist – eigentlich ein übergemeindlicher Dienst. Nun wollten wir testen, ob wir hier tatsächlich das Wort Jesu hörten, der uns über das Wasser zu sich rief. Und schon im ersten Jahr war unser Terminkalender mit Seminaranfragen und Vortragsterminen gefüllt und ist es seither Jahr für Jahr. Wir genießen unsere gemeinsame Arbeit als Ehepaar! Wir dienen immer neuen Menschen in vielen verschiedenen Gruppen und Gemeinden im deutschsprachigen Raum. Wir dürfen vielen helfen, zu einem gesunden Glauben, zu einem reicheren Bibelverständnis und zu einer größeren Reife zu kommen.
Aus den Höhen und Tiefen meines persönlichen Lebens und unseres von Brüchen durchzogenen beruflichen Weges habe ich viel gelernt. Andere geistliche Leiter, denen wir von unserem Scheitern erzählten, sagten uns: „Willkommen im Club!“ Es scheint Gott nicht darum zu gehen, ob wir erfolgreich sind und ohne Hindernisse vorwärtskommen. Sicher schmerzen ihn die Trümmer, die am Rand liegen, wie sie auch mich schmerzen. Ich bin nicht stolz darauf! Aber seine Gnade ist größer. Geistliche Autoren sagen, dass es zur Reife notwendig ist, dass wir lernen, gegenüber unserem jüngeren Ich barmherzig zu werden. Besonders herausgefordert wurde ich an diesem Punkt, als die Anfrage kam, ob wir als geistliche Begleiter für die OJC-Kommunität zur Verfügung stehen würden. Zumindest die ältere Generation der Mitarbeiter kannte mich als unfertige Jugendliche und weiß von dem mehrfachen Scheitern der späteren Jahre. Wie konnten sie mir diese Rolle zutrauen! In der Gnade Gottes wachsen wir inzwischen in diese Aufgabe und in eine immer nähere Beziehung zu den vielen kostbaren Menschen der OJC-Gemeinschaft hinein und empfinden das Vertrauen und die Begegnungen als ein großes Geschenk.
Gott selber dient anderen durch mich. Und wie oft hat er in der Bibel gerade den Unwahrscheinlichsten, Unmöglichsten gewählt, um sein Reich voran zu bringen. Ich bin ihm sehr dankbar, dass ich an seiner Hand über Höhenwege und Abstürze den Weg gehen darf, der mich immer näher zu ihm und damit immer mehr zu meiner tiefsten Bestimmung bringt: Sein Kind zu sein.
Ursula und Manfred Schmidt sind evangelische Theologen und arbeiten seit 2010 vollzeitlich in einem überregionalen Lehrdienst für Gemeinden und Kirchen.
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