
Spektralfarben des Gebets
Viele Menschen besuchen Jahr für Jahr das Schloss. Sie folgen dem Caféschild, sind angezogen von der Burganlage auf dem Reichenberg und gelangen dabei auch in die gotische Michaelskapelle. Oft sind sie überrascht von der Atmosphäre im Raum, sie nehmen sich Zeit, setzen sich und genießen sie. Etwas geht hier in einem vor, etwas wird eingefangen in Licht, Farbe und Botschaft, das zu Herzen geht. Ein Raum der Stille und Schönheit. Die Gäste werden durch die ausliegenden Kapellenflyer eingeladen, mit Gott ins Gespräch zu kommen, sich anregen zu lassen von dem, was es zu entdecken gibt. Manch einer liest, dass wir in unserem Mittagsgebet für ihre Anliegen beten und wagt es, die eigene Not oder Sehnsucht in Worte zu fassen und in die Box zu legen. Von Montag bis Freitag unterbrechen wir jeden Mittag unsere Arbeit und lassen uns durch unsere Liturgie erinnern: „Wir gehören nicht den Menschen, nicht der Arbeit und nicht uns selbst. Wir gehören dir, unsere Zeit liegt in deinen Händen.“
Die Kapelle auf Schloss Reichenberg steht seit 1434 und ist dem Erzengel Michael geweiht. Sie hat eine wechselhafte Geschichte. War sie ursprünglich Ort des Gebetes und gottesdienstlicher Feiern, geriet sie nach der Zeit des 30-jährigen Krieges mehr und mehr in Vergessenheit, war lange Jahre Lagerraum und verlor irgendwann sogar ihr Dach. Erst nachdem das Chorgewölbe wieder hergestellt war, wurde sie 1988 wieder Ort des Gebetes und gottesdienstlicher Feiern. 2014 bekam sie vom Groß-Umstädter Glaskünstler Robert Münch Buntglasfenster. Die Kapelle ist reich an Geschichten und Symbolen: Ikonen, Schlusssteine, Fensterbilder, die aufgeschlagene Bibel auf dem Altar, die Gesangbücher. Sie nehmen mit hinein in die gute Botschaft der Auferstehung Jesu Christi.
Im Rahmen der Führungen im Erfahrungsfeld ist die Kapelle eine Station der gemeinsamen Zeit. Wir erzählen aus unserer Gemeinschaft, singen und beten mit unseren Gästen. Auch geben wir jedem gerne ein Detailbild eines Gegenstandes in die Hand mit einer Aufgabe. Aus dem Detail gilt es, den Gegenstand in der Kirche zu finden und den anderen zu berichten, was fehlen würde, wenn dieser nicht da wäre. Kirchenferne und Kirchenvertraute machen sich so emsig auf die Suche, mühen sich im kleinen Teil ein Ganzes zu erkennen. Hat die Suche ihr Ziel gefunden, strahlen Gesichter und jeder findet eigene Worte für die Bedeutung des Fundes.
Aber dieser Kirchenraum ist auch Stein des Anstoßes. Für viele Konfirmanden hat Kirche und ihre Botschaft weder Alltagsbezug noch Relevanz. Sie kommen mit einem vorgefertigten Bild des christlichen Glaubens. Wenn sie von uns hören, dass wir freiwillig und fröhlich in einer christlichen Lebensgemeinschaft arbeiten und der Glaube unsere Mitte ist, stellt das ihr Bild in Frage. In der Kapelle wählen wir eines der Fenster oder Symbole aus und erzählen, wie seine Botschaft unser Leben bereichert. Wir beten mit ihnen Psalm 139, das Vaterunser und lassen sie die guten Worte unseres Gottes auch im Segen spüren. Mit neuen Bildern und Einsichten gehen sie zurück in ihren Alltag. Auch kirchliche Gruppen, die eine innere Anbindung an Christus und seine Worte haben, besuchen uns. Sie benennen oft die kostbare Atmosphäre in der Michaelskapelle, staunen über das Lichtspiel, das durch die Fenster den Kapellenraum erfüllt.
Mein Lieblingsfenster ist das kleinste und schlichteste. Robert Münch gab ihm den Titel: Christus, Ströme lebendigen Wassers. Man sieht, wie der Künstler mit dem Glas gearbeitet hat, wie es Konturen aufweist, einen Wasserstrom abbildet. Eine Tür ist erkennbar und ganz zart das Zeichen eines Kreuzes. Alles in Blau und Weiß. Blau als die Farbe Gottes und Weiß als die Fülle aller Farben. In Israel, dem Land, in dem Jesus lebte, war Wasser gleichbedeutend mit Leben, Wachstum und Fruchtbarkeit, denn es hat im Unterschied zu Deutschland ganz wenig davon. Nur wo regelmäßig bewässert wird, wächst und reift etwas. Robert Münch deutet mit diesem Fenster eine Verheißung an. Wo wir Jesus die Tür unseres Herzens öffnen, kommen mit ihm Ströme lebendigen Wassers in unser Leben. Bereiche, in denen es lange wüst und leer war, beginnen neu zu grünen und zu blühen, es wächst etwas und reift. Das Fenster ist Ausdruck der Lebenserfahrung des Künstlers. Für ihn war und ist dieser Gott, dem zu Ehren er alle seine Fenster entworfen hat, dieses lebendige Wasser, Quelle seines kreativen Schaffens, Quelle seines Lebens.
Es bleibt unser Gebet und unsere Hoffnung, dass Menschen in der Kapelle in Berührung kommen mit Christus und seinem lebendigen Wasser.