
Wir haben genug!
Mahatma Gandhi hat es auf den Punkt gebracht: „Lebt einfacher, damit andere einfach leben können.“ Wir wissen, dass wir im Westen einen Lebensstil führen, den unmöglich alle Menschen leben können, wir bräuchten mehrere Erden dazu! Ob lokal oder global – wir sind herausgefordert, das Teilen der Güter weise, gerecht und für alle gewinnbringend zu gestalten. Denn es gilt die Maxime von Frank N. Buchman: „Es ist genug in der Welt für jedermanns Bedürfnisse – aber nicht für jedermanns Habgier.“
Verantwortliches Haushalten mit den Ressourcen beginnt bei mir selbst. Für mich ist das Leben in Gemeinschaft untrennbar mit dem Wunsch verknüpft, meine Zeit, meine Pläne, Dinge, die ich zur Verfügung habe, mit anderen zu verbinden, sie abzugeben und mich beschenken zu lassen. Ich muss nicht alles selbst haben und können und kann zugeben, dass ich die anderen brauche. In meinem Lernen als Nachfolger Jesu hat sich mir der Text des Paulus in Römer 12,2 eingeprägt: Richtet euch nicht länger nach den Maßstäben dieser Welt, sondern lernt, in einer neuen Weise zu denken, damit ihr verändert werdet und beurteilen könnt, ob etwas Gottes Wille ist – ob es gut ist, ob Gott Freude daran hat und ob es vollkommen ist.
Behütet aufgewachsen wurde ich in den Studienjahren hellhörig, als ich etwas von der großen weiten Welt und der bunten interkonfessionellen Familie Gottes entdeckte. Ich empörte mich über christliche Bequemlichkeit und die 10%-Gewissens-Ablass-Regel. Die Lausanner Erklärung von 1974 (Artikel 9) sprach mir aus dem Herzen: „Die Armut von Millionen erschüttert uns alle … Wir sind verstört über die Ungerechtigkeit, die diese Armut verursacht. Wer im Wohlstand lebt, muss einen einfachen Lebensstil entwickeln, um großzügiger zu Hilfe und Evangelisation beizutragen …“ Das wollten meine Frau Ute und ich ausprobieren – und zwar im Nachbarschaftsleben an den slumartigen Rändern einer Großstadt.
Bevor wir als Familie aufbrachen, verbrachten wir zwei Jahre in der OJC und lernten einen Lebensstil kennen, der sich experimentell „Großfamilie“ nannte: Singles, Paare und Familien, vereint durch eine Berufung, nicht durch eine Anstellung. Menschen, die gemeinsam leben und tun, was ihrer Meinung nach – und nach dem Hören auf Gottes Wort – dran ist. Die Gott zutrauen, dass er sie mit allem versorgt, was sie zum Leben brauchen. Die mit Gästen vor Ort und Freunden auf der weiten Welt schwesterlich und brüderlich teilen. Horst-Klaus Hofmann, der Gründer, sprach mir aus dem Herzen: „Der neue Lebensstil, der gebraucht wird, verbindet das Persönliche und das Politische, das Intime und das Globale – indem er Gott und die einzelnen Menschen wichtiger nimmt als Güter und Leistungen, Vorurteile und Vorteile.“ Nach 15 Jahren Leben in Argentinien kamen wir hierher in die OJC zurück. Wenn ich zusammenfassen soll, was mich heute motiviert, einfach, zufrieden, fair und gerecht zu leben, sehe ich folgende wesentliche Gründe:
Um anderer willen
In Sachen einfache(re)s Leben steht nicht unser Verzicht im Fokus, sondern der Gewinn – würdiges Leben für andere Menschen, gelebte Solidarität. So schreibt es schon der Apostel Paulus in 2 Kor 8,13–14: Ihr sollt nicht selbst Mangel leiden, damit andern geholfen wird. Vielmehr soll es zu einem Ausgleich kommen. Im Augenblick habt ihr mehr als die andern. Darum ist es nur recht, dass ihr denen helft, die in Not sind. Wenn dann einmal ihr in Not seid und sie mehr haben als ihr, sollen sie euch helfen. So kommt es zu einem Ausgleich zwischen euch. Das zeigt sich auch im biblischen Konzept von Gerechtigkeit: Statt Gleichmacherei Ausgleich, der dem Einzelnen gerecht wird.
Um Gottes Willen
Dieses Argument macht Ernst damit, dass der Schöpfer Eigentümer aller Güter ist und wir vorübergehende Besitzer und Verwalter, die Ihm Rechenschaft schuldig sind: Mein ist Silber und Gold (Hag 2,8). Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist (Ps 24,1). Es begeistert mich, wenn ich im Alten Testament lese, wie das gesellschaftlich umgesetzt werden sollte: Die Bauern sollten nicht einfach alles abernten; die Alten, Kranken, Arbeitslosen hatten ein Recht auf die Nachlese! Soziale Unterschiede darf es geben – aber das tägliche Brot, die Grundbedürfnisse sollen für alle Menschen gesichert sein.
In Ägypten waren arbeitsfreie Tage nur für die Oberschicht vorgesehen, in Israel aber gab es einen Siebentage-Ruherhythmus für alle: Volksangehörige und Fremde, sogar für Arbeitstiere (5 Mo 25,1–7)!
Besonders kreativ und lebensnah, einsichtig und erfrischend ideologiefrei ist die Institution des Erlassjahres. Damit baut der Schöpfer einer totalen Privatisierung von Gütern vor, die als Lebensgrundlage aller dienen, ohne dabei die kollektive Enteignung von persönlicher Habe zu fordern. Schuldenspiralen, die die soziale Schere festschreiben, werden aufgelöst: Alle 50 Jahre (5 Mo 25, 8ff) ist in Israel allen Volksangehörigen ein vollständiger Schuldenerlass zu gewähren, Schuldsklaverei aufzuheben, soll verpfändetes Erbland an die Familien zurückgehen! Wer also Land kaufte, erwarb damit kein Eigentum, sondern nur ein Nutzungsrecht bis zum nächsten Erlassjahr. Das verhinderte auch Spekulationskäufe, weil z. B. Landpreise, Zinsen und Rückzahlungen im 40. Jahr nicht mehr so hoch waren, da zehn Jahre später ja alles an die ursprünglichen Besitzer zurückzugeben war! Das Alte Testament macht einsichtig, dass wir über unseren Besitz nicht einfach verfügen können, nur weil wir ihn uns erarbeitet oder gekauft haben. Vielmehr gilt, was auch Indigene in Argentinien sagen können: Was ich habe, habe ich zum Teilen mit anderen – so wie sie mit mir teilen, wenn ich es brauche. Sparen ist viel sinnvoller im Bruder als auf der Bank. Geiz ist nicht geil, sondern gottlos und gemein!
Um des Evangeliums willen
Jesus selbst lebte mit seinen Jüngern in völliger Abhängigkeit von anderen Menschen, genoss ihre Gastfreundschaft, suchte Beziehung auf Augenhöhe – auch mit den Außenseitern. In seinen Geschichten spricht er nicht selten über Haushalter und Verwalter, die guten als Vorbilder und die anderen, die es nicht nachzuahmen gilt. Dabei ging es ihm nicht um Askese. Er war gerne dabei, wenn gefeiert wurde. Einer seiner Schüler schreibt, was er von seinem Meister gelernt hatte: Ich weiß, was es heißt, sich einschränken zu müssen, und ich weiß, wie es ist, wenn alles im Überfluss zur Verfügung steht. Mit allem bin ich voll und ganz vertraut: satt zu sein und zu hungern, Überfluss zu haben und Entbehrungen zu ertragen (Phil 4,12). An anderer Stelle schreibt Paulus an einen Leiter: Schärfe denen, die es in dieser Welt zu Reichtum gebracht haben, ein, nicht überheblich zu sein und ihre Hoffnung nicht auf etwas so Unbeständiges wie den Reichtum zu setzen, sondern auf Gott; denn Gott gibt uns alles, was wir brauchen, in reichem Maß und möchte, dass wir Freude daran haben. Ermahne sie, Gutes zu tun, freigebig zu sein und ihren Besitz mit anderen zu teilen (1 Tim 6,17–18).
Um unseretwillen
Gerecht ist, im rechten Maß für mich und andere zu leben, und das macht zufrieden, also befriedet und froh. Das gelingt, wenn ich im Vertrauen auf Gott lebe, der mich sieht, kennt, und für mich sorgt. So rät Jesus seinen Jüngern: Macht euch keine Sorgen! Fragt nicht: Was sollen wir essen? Was sollen wir trinken? Was sollen wir anziehen? Mit all dem plagen sich Menschen, die Gott nicht kennen. Euer Vater im Himmel weiß, dass ihr all das braucht. Sorgt euch zuerst darum, dass ihr euch seiner Herrschaft unterstellt, und tut, was er verlangt, dann wird er euch schon mit all dem anderen versorgen (Mt 6,31–33). Echte Zufriedenheit finden wir in dem, was wir haben, nicht in dem, was uns fehlt – und meist gar nicht zu kaufen ist!
Um unserer Berufung willen
Jesusfreunde sind Gottes Kinder und für ihre Schwestern und Brüder mitverantwortlich. Der himmlische Vater hat für sie alle das Leben und die Fülle geschaffen. Woher kommen also Hunger und Armut? Und wie kann faires und gerechtes Leben gelingen? Diese Fragen beantwortet die Bibel mit dem Werdegang des Volkes Israel, das als Sklaven für die ägyptische Oberschicht arbeiten musste. Pharao beanspruchte für sich, dass sein Tisch voll zu sein hatte, seine Häuser Paläste, und sogar seine Grabstätte pyramidal. Er glaubte an so etwas wie „Herrenrasse“. Ihr haben die anderen zu dienen. Sie legt fest, was wem zusteht und was nicht. Aus dieser Gesellschaft befreit Jahwe sein Volk, damit es in seinem Land, unter seiner Autorität einen Neuanfang geben konnte. Mit Regeln, die ein würdiges Leben aller ermöglichen, in dem alle vor dem Gesetz gleich und seiner Fürsorge gewiss sein sollten. Gottes Plan mit seinem Volk war und ist einzigartig – eine alternative Gesellschaft unter seiner Leitung! Und bis heute nötiger denn je, denn immer größer wird der Abstand zwischen denen, die im Supermarkt kaufen können, was sie wollen, zu den vielen, die sich nicht satt essen können und keinen Zugang zu Trinkwasser und medizinischer Grundversorgung haben. Zehn Kinder unter fünf Jahren sterben pro Minute, das sind 15.000 jeden Tag, während bei uns etwa 30 % der Lebensmittel weggeworfen werden.
Kapitalanleger spekulieren auf Agrarrohstoffe, aber das UN-Welthungerprogramm bekommt immer weniger Geld. Fleisch ist Lebensmittelverschwender Nummer eins: Für 1 kg Fleisch müssen 16 kg Getreide produziert werden. Die 500 größten Konzerne der Welt kontrollieren 52 % des Weltbruttosozialprodukts, geschützt durch Bankgeheimnis und Steueroasen.
Um der Liebe willen
Gott missfiel es, wenn die Regenten Israels sich lieber an den Sitten anderer Völker und deren Mächtigen orientierten als an seinen Verordnungen. Der Wirtschaftsboom zur Zeit von Amos war kein Segen, sondern Resultat von Ausbeutung! Propheten erinnerten daran, dass kein Segen auf der Bereicherung einiger zulasten des Gemeinwohls liegt, z. B. in 5 Mo 15,4–5: Wenn ihr auf den Herrn, euren Gott, hört und alle seine Weisungen befolgt …, wird es überhaupt keine Bettelarmen unter euch geben. Denn dann wird der Herr euch genug zum Leben schenken in dem Land, das er euch gibt. Diese Verheißung gilt auch als Orientierung für die Völker, die sich an Christus halten. Das haben auch die ersten Christen verstanden, wenn sie um „unser täglich Brot“ – also nicht ihr privates – beteten. Sie hatten von Jesus gehört, dass sie, wenn sie ein Fest feiern, auch die einladen sollen, die sie nicht wieder einladen würden! Sie teilten also, was sie hatten, mit hungrigen Nachbarn, Gästen, Witwen und Waisen. In dieser Praxis lag ihre missionarische Kraft – das machte ihre Botschaft so anziehend. Natürlich war das schon damals nicht unangefochten. Daran erinnert uns 1 Joh 3,17: Angenommen, jemand hat alles, was er in der Welt braucht. Nun sieht er seinen Bruder oder seine Schwester Not leiden, verschließt aber sein Herz vor ihnen. Wie kann da die Liebe Gottes in ihm bleiben und er in ihr?
Christen sind Menschen, die von der Liebe Gottes berührt werden. Er will das Leben aller seiner Geschöpfe. Dazu schenkt Er – ungleichmäßig verteilt – alles zum Leben Notwendige, je nach Kraft, Gaben, Lebensumständen, Klima. Er bezieht alle in sein Verteilungskonzept mit ein, damit wir lernen zu danken, zu bitten und zu teilen. Das gehört zu Gottes Grundgedanken, das weiß jeder Indigene im Chaco – jeder hat zum Abgeben, jeder braucht etwas.
Jesus und seine Jüngerschar waren eine Erneuerungsbewegung unter ihren Landsleuten, sie bildeten eine Miniversion des aus zwölf Stämmen geeinten Volkes. Durch alles, was sie unternahmen, machten sie deutlich: so sieht es aus, so fühlt es sich an, wenn Gott in seinem Volk regiert. So gesehen war Jesus das Reich Gottes in Person und Aktion und seine Jüngergemeinschaft repräsentierte die Reich-Gottes-Gemeinschaft dazu. Eine kleine Kontrastgesellschaft, die große Wirkung hatte! Zachäus ist dafür ein gutes Beispiel – er erlebte, wie Jesus und seine Freunde ihn behandelten. So erwachte in ihm ein bis dahin unbekanntes Bedürfnis: er wollte mit anderen teilen, Unrecht wieder gut machen, er wollte etwas loswerden!
Dazu sind wir Christenmenschen berufen – alternative Gesellschaft so zu leben, dass andere Menschen Gottes Familie, Solidarität, Integration erleben können. Wir üben es im Kleinen, im mühseligen Alltag, und wir üben es miteinander im Teilen mit den bedürftigen Geschwistern weltweit. Als OJC-Gemeinschaft haben wir uns verbündet – wenn auch nur anfänglich und bruchstückhaft – als Kontrastgesellschaft zur Kultur der Gier und des Konsums zu leben. Wir nennen es „einfache(re)n Lebensstil“, auch wenn es uns alles andere als leicht fällt. Das sind einige Ansatzpunkte, die uns dabei helfen: