Reise nach Jerusalem. Reise zu mir. Bild aus Israel mit dem Ehepaar Böhm am Tisch.

Reise nach Jerusalem

Reise zu mir

Begegnung mit trauernden Eltern aus Israel

Die Beschäftigung mit dem Judentum ist nicht in mein Belieben gestellt, sondern eine notwendige Verpflichtung. Als Christen stehen wir in der Verantwortung, uns nach jahrhundertealten Irrtümern mit einem eindeutigen und unmissverständlichen Ja zum Volk Israel zu bekennen. Als Deutsche haben wir vom Dritten Reich her immer noch viel aufzuarbeiten. Die Kirche ist durch ein untrennbares Band mit den Juden verbunden. Sie wurzelt im Alten Bund: Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich (Röm 11,18). Das Volk Israel „bleibt das auserwählte Volk, der gute Ölbaum, in den die Heiden als wilde Schösslinge eingepropft sind“. 1 Die Herkunft Jesu bestimmt letztlich auch die Identität der Christen. Der Gott Jesu ist der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der Gott des auserwählten Volkes. Dieser Gott ist auch der Gott der Christen.

Erste Anfänge

1993 besuchte der katholische Priester und Schriftsteller Heinrich Spaemann unsere Gemeinschaft. Er beeindruckte mich tief mit seiner Deutung der beiden Brüder in Lukas 15: Israel als der ältere Bruder und die Christenheit aus den Heiden als der jüngere. Er wies darauf hin, dass jetzt, nach Auschwitz, und nachdem es Israel wieder gibt, von uns Christen gefordert sei, dass wir uns nun auch verstehend einlassen auf den jüdischen Weg zu Gott, wie er von diesem Volk gegangen wird: „An der Stelle, wo wir noch nicht eins sind, da sind wir noch nicht heil. Die tiefste Wunde am Leib Christi, die Herzwunde, ist nach Eph 2,16 die Gespaltenheit zwischen alt- und neubundlichem Gottesvolk. Schließen wird sie sich erst an dem Tag, da wir einander wieder als Brüder erkennen und lieben. … Wir brauchen einander. Finden wir zueinander, dann – dann erst – sind die beiden verlorenen Söhne vollends vom Vater wiedergefunden. Es wird dann einen Austausch unserer Gaben geben … wie ein Strom von Herz zu Herz. Und so erst wird das Antlitz der Kirche erneuert sein. Es wird das ihrer Urtage sein, das ihrer ersten Liebe, das einer Kirche aus Juden und Heiden.“ Aus dieser Perspektive heraus ist mir die persönliche Begegnung mit Juden zu einem Herzensanliegen geworden.

Erste Begegnung

Meine erste persönliche und unvergessliche Begegnung mit einem Juden hatte ich bei einem Seelsorgeseminar in Reichelsheim im März 1995 mit dem damals schon hochbetagten Schweizer Psychoanalytiker Jacques Berna. Ich war dabei, einen Vortrag zum Thema „Belastungen und Bindungen“ zu halten und hatte den inneren Impuls, ihn anzusprechen und um Vergebung zu bitten für die unvergleichlichen Gräuel, die unser deutsches Volk im Dritten Reich seinem Volk angetan hat. Überrascht und sichtlich berührt verschlug es ihm die Sprache. Ein paar Tage später erhielt ich von ihm einen bewegenden Brief, den ich bis heute wie einen Schatz hüte. Darin schrieb er: „Du hast mich auf einzigartige Weise beschenkt. Nicht nur, dass ich in tiefer Teilnahme Deine Worte begleitete, sondern Du hast in mir in ungewohnter Weise den Juden/Christen angesprochen, der damit mit sich einig wurde. Das ist ein ganz neues Erleben – der Zwiespalt ist weg, die Symphonie in mir hat nicht mehr viele, sie hat noch einen Satz. … Meine Antwort war dürftig. Ich hätte Dir sagen wollen, dass ich trotz der Ängste vor Hitler und trotzdem mein Bruder vergast wurde, mich lange nach Versöhnung gesehnt habe. Dank Deiner Worte sind meine depressiven Stimmungsschwankungen zurückgegangen. Ich bin GANZ geworden… wie die Musik in mir.“ 2 Noch weitere fünf Jahre bis zu seinem Heimgang standen wir in freundschaftlichem Kontakt, der von herzlicher Offenheit und tiefem Vertrauen bestimmt war.

Zweite Begegnung

Im April 1995 bekam ich die Gelegenheit, im Rahmen der Aktion „Versöhnungs-
Wege“ mit Christen verschiedener Konfessionen eine Begegnungsreise nach Polen zu unternehmen. Wir wollten den jüdischen Opfern mit der Bitte begegnen: „Könnt ihr uns vergeben, was euch vor 50 Jahren von uns Deutschen angetan wurde?“ Auf dieser Reise ist mir bewusst geworden, dass Begegnung zwischen Deutschen und Juden möglich ist, wenn man sich zur Geschichte seines eigenen Volkes bekennt.

Indirekt, doch entscheidend vorbereitet für eine solche Begegnung war ich auch durch die Beschäftigung mit Martin Buber (1878–1965). 3 Seine Sozialphilosophie ist zusammengefasst in dem Satz: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“ Für Buber kann sich nur im Dialog auf Augenhöhe eine wirkliche Begegnung zwischen Menschen ereignen. „Ich habe keine Lehre, aber ich führe ein Gespräch.“ Dialogisches Leben gelingt, indem man mit dem Menschen, mit dem man zu tun hat, wirklich zu tun hat.

Dritte Begegnung

2002 eröffnete sich mir ein neues Übungsfeld versöhnender Begegnungen mit jüdischen Geschwistern: Mit einem Team von Christen luden wir israelische Ehepaare und Eltern, die in Kriegshandlungen oder durch Terroranschläge ein oder mehrere Kinder verloren haben, in die OJC ein. In einem zweijährlichen Turnus begegneten wir für jeweils zwölf Tage vier bis sieben Ehepaaren aus Israel. In diesen Tagen konnten und wollten wir als Gastgeber nichts anderes als feinfühlig zu vernehmen, was unsere Gäste zu sagen hatten, aber nicht mehr sagen konnten. Alle hatten im tiefen Schmerz über den Verlust ihres(r) Kindes(r) ihr Herz mehr oder weniger verschlossen. Immer wieder durften wir erleben, wie sich das Herz unseres Gegenübers auf wundersame Weise auftat. Schon in den ersten Tagen, und dann immer wieder, kam es zu Aussagen wie: „Woher habt ihr diese Liebe, die sich ohne Absicht und Eigeninteresse einfach verschenkt; so etwas kennen wir nicht; so etwas haben wir noch nicht erlebt …“.

Wie sollten wir auf diese Frage antworten, da für uns die Liebe Gottes ein Gesicht hat, nämlich Jesus Christus. Die meisten „Disraelis“ waren säkulare Juden, die zwar noch einige Bräuche pflegten, aber kaum bis gar keine Kenntnisse über ihren Glauben hatten. Umso größer war ihr Erstaunen, dass uns die Thora wohl bekannt ist und zum wesentlichen Bestand auch unseres Glaubens gehört. Wir konnten grundlegend Gemeinsames im Glauben von Juden und Christen herausstellen: Wir glauben beide, dass Gott eine Person ist. Er kennt mich beim Namen, und zwar genau als der, der ich bin – so und nicht anders, mit allen meinen Schwächen und Stärken. Er begegnet mir, er teilt sich mir mit und ich kann mich ihm mitteilen. Diese Begegnung als bedingungslose Liebe zu erfahren und durch sie mein Leben bestimmen zu lassen, verbindet uns. Martin Buber sagt an einer Stelle: „Die Ich-Du-Beziehung zwischen zwei Menschen ist immer ein Abglanz der Begegnung des Menschen mit Gott.“

Als Gastgeber waren wir ermutigt und beschenkt durch Aussagen wie: „Als wir uns auf den Weg hierher machten, waren unsere Herzen kalt und leer. Jetzt hat mein Blut wieder zu zirkulieren begonnen; ich spüre seit vielen Jahren wieder Wärme und neues Leben in meinem Herzen. Eure Liebe war überwältigend. Ich kam mit leeren Händen und fahre zurück mit vielen neuen Freunden, die ich hier gefunden habe.“ Ähnlich tauschte eine andere aus: „Ich habe hier wunderbare Menschen entdeckt, die ihre Liebe, Wärme, Umarmungen einfach an uns verschenken, ohne etwas zurück zu verlangen. Wir haben zusammen getanzt, gesungen, viel geweint und gelacht. Der Zusammenhalt untereinander ist gewachsen, sowohl unter den eigenen Landsleuten als auch zwischen Israelis und Deutschen.“ Eine andere erzählte beim Mittagessen: „Nach dem Tod meines Sohnes ist sämtliche Lebensfreude in mir erloschen. Ich war bis dahin immer ein Mensch, der fröhlich war und viel gelacht hat. Jetzt spüre ich, dass in diesen Tagen meine verlorene Lebensfreude langsam wieder zurückkehrt …“
Als wir in einem Gottesdienst, zu dem sie allesamt freiwillig kamen, feierlich das „Sh’ma Israel – Höre Israel“ anstimmten, waren manche so tief berührt, dass sie sich, wie wir später von ihnen erfuhren, für ihre Glaubenswurzeln zu öffnen begannen, ja, es kam zu einer regelrechten Gotteserfahrung.

Gott hat sich uns hier erneut offenbart im Wunder des Neuanfangs. Am tiefsten haben wir das erlebt an den Orten der Scham und Schande unseres deutschen Volkes, im KZ Sachsenhausen, im Haus der Wannseekonferenz, am Deportationsbahnhof Grunewald. Was mich am meisten berührt hat, war, mit welch starkem inneren Anliegen die Israelis uns Deutsche in ihre Gedenkzeremonie in Sachsenhausen einbezogen haben. Was in diesem Augenblick in der unsichtbaren Welt geschehen ist, lässt sich wohl nur erahnen. Zutiefst glaube ich, dass solche versöhnlichen Akte unserem Volk wieder eine lebensvolle Zukunft erschließen werden.
Als wir unsere Gäste zum Flughafen gebracht hatten, baten sie uns: „Bitte besucht uns bald und vergesst uns nicht.“ Das meinten sie zutiefst ernst. Über die Jahre haben meine Frau und ich immer wieder Gegenbesuche in Israel gemacht und dabei eine überwältigende Gastfreundschaft erlebt. Das Wort „Freunde“ hatte bei unseren Disraelis allerhöchsten Wert. Wem sie einmal das Herz geöffnet haben, der hat dort für immer seinen Platz. So durften wir es immer wieder erfahren.

Vierte Begegnung

In diesem Jahr hatten wir bei unserem Besuch in Israel die besondere Gelegenheit, der Holocaustüberlebenden Lea Hilman persönlich zu begegnen; sie hatte das Vernichtungslager Auschwitz überlebt, in das sie 1942 als Dreizehnjährige zusammen mit ihrer elfjährigen Schwester und ihrem achtjährigen Bruder deportiert wurde; ihr Bruder hat es nicht überlebt. Wir wissen aus anderen Zusammenhängen, dass viele der Zeitzeugen, die heute über die Erlebnisse sprechen, über Jahrzehnte nicht gehört wurden, andere waren nicht in der Lage, über ihr Leid, die Exzesse der Entwürdigung zu reden. Auch Lea Hilman erzählte uns, dass sie, als sie nach langem Schweigen endlich den Mund aufgemacht habe – bereitwillig, sogar gern, damit alle wissen, was war und was nie wieder sein soll – auf Abwehr gestoßen sei. „Als ich einmal damit begonnen hatte, hatte ich nur noch eines im Kopf, ich wollte erzählen, was passiert war. Ich hatte keinen Filter. Das wurde meinen Angehörigen zu viel. ‚Ach, hör endlich auf damit; wir können es nicht mehr hören‘.“ Dass meine Frau und ich Lea trafen, ist für uns ein großes Geschenk. Wir baten sie, ihr Erzählen aufnehmen zu dürfen, um auch unseren Kindern und Freunden daran Anteil geben zu können. Sie erlaubte es uns gerne. Wir haben ihr in ihrem Zimmer, gemeinsam mit fünf anderen jungen Menschen, über zwei Stunden mit Spannung zugehört. Sie wusste, dass sie das wieder stark aufwühlen und mehrere schlaflose Nächte kosten würde. „Das ist es mir wert; ich will ja mit meinem Erzählen nur, dass die Menschen besser werden.“ Ich fragte sie, ob sie bei all dem schrecklich Erlebten keinen Hass auf die Deutschen zurückbehalten habe? „Nein, ich habe keinen Hass. Wenn man Hass in sich hat, zerstört der einen selber. Ich habe das Leben gern, es ist ein Geschenk. Ich weiß, dass ich einmal Heimat bei Gott finden werde; der Messias kommt bald …“

Lea Hilmann erinnert mich daran, dass wir da, wo wir uns wirklich begegnen, empfinden, dass es sehr gut ist, dass es die Welt gibt und auch mein eigenes Leben. Wie aus Martin Bubers autobiographischen Notizen zu entnehmen ist, ist der wichtigste Grundgedanke der chassidischen Überlieferung die „Einwohnung Gottes“. Gott nimmt im Menschen seine Wohnung. Ich will meine Wohnung unter euch haben und will euch nicht verwerfen (3 Mo 26,11). Eine von Martin Buber überlieferte chassidische Geschichte geht so: „Wo wohnt Gott?“ Mit dieser Frage überraschte der Kosker einige gelehrte Männer, die bei ihm zu Gast waren. Sie lachten über ihn: „Wie redet Ihr! Ist doch die Welt seiner Herrlichkeit voll!“ Er aber beantwortete die eigene Frage: „Gott wohnt, wo man ihn einlässt.“

Als Christ darf ich sagen: Wenn Jesus Christus als die leibhaftige, sich verschenkende Liebe in mir Einlass findet, dann habe ich zu mir gefunden und kann auch meinem Nächsten so begegnen, dass er sich gefunden fühlt.


  1. Johannes Paul II. am 6. März 1982 

  2. Brief vom 28.03.2015, die Heraushebungen entsprechen dem Original des Briefes 

  3. Für mich maßgeblich waren dabei seine Bücher „Ich und Du“ und das „Das dialogische Prinzip 

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