
Was ist der Mensch?
Der indische Theologe, Philosoph und Publizist Vishal Mangalwadi hat mit seiner Frau Ruth für ihren mehrjährigen Missionsaufenthalt in Europa die Zelte in Reichelsheim aufgeschlagen und hilft uns in freundschaftlicher Verbundenheit und durch viele wertvolle Impulse, Glauben, Denken und Handeln zusammenzuhalten. Wir wünschen seiner aufrüttelnden Botschaft an eine lau und müde gewordene westlich-christliche Kultur, die uns mitten in Herz getroffen hat, eine weite Verbreitung.
Wie kommt es, dass nichtchristliche Kulturen die Pyramiden und prächtige Bauten wie den Taj Mahal errichtet haben, keine Schubkarren für ihre Frauen und Kinder, Sklaven und Arbeiter herstellen konnten? Es war eine bestimmte Überzeugung, die den Westen in die Lage versetzte, die Sklaverei abzuschaffen und ihren Frauen mehr Freiheit einzuräumen als selbst matriarchalische Kulturen. Die Überzeugung, dass alle Menschen, ob hoch oder niedrig, gebildet oder ungebildet, reich oder arm, gesund oder krank, männlich oder weiblich, schwarz oder weiß, gleich sind. Und woher begründete sich diese Gleichheit? Nicht daher, dass alle sich gleich entwickelten, sondern aus der Tatsache, dass jeder Mensch nach dem Bild Gottes geschaffen und daher mit Würde bekleidet ist.
Die Würde des Menschen
Diese eigentümliche Lehre von der Würde des Menschen war die Kraft, die den Unterschied zwischen dem Westen und dem Rest der Welt ausmachte. Beim Anbruch der Moderne malte Michelangelo diesen Gedanken an die Decke der Sixtinischen Kapelle. Er stellte Gott dar, wie er seinen Arm ausstreckt, um Adam nach seinem Bild zu erschaffen, während Eva sich im anderen Arm Gottes befindet und das Wunder betrachtet, das Adam ist, und auf ihre eigene Erschaffung wartet, die wiederum ein Wunder für Adam sein wird. Der heutige Westen macht sich über die Weltanschauung Michelangelos lustig und misst dem menschlichen Leben nicht mehr Wert zu als dem von Tieren.
Lassen Sie mich das illustrieren, indem ich Ihnen eine wahre, wenn auch tragische Geschichte erzähle. Als Ruth und ich aus der Stadt fortzogen, um uns für arme Bauern einzusetzen, schrieb ich gerade an meinem ersten Buch The World of Gurus, das zu einer empfohlenen Lektüre an Universitäten wie Cambridge wurde. Regelmäßig fuhr Ruth mit dem Fahrrad ins Dorf und ging von Tür zu Tür, um mehr über unsere Nachbarn zu erfahren. Sie wollte wissen, wie viele der Kinder etwas lernen und was sie tun könne, um denen zu helfen, die nicht in die Schule gingen.
Bei einem Besuch trat sie in eine Lehmhütte, die weder Fenster noch eine Lampe hatte. In der Mitte des Raumes hing eine geknüpfte Hängematte, und darauf lag ein achtzehn Monate altes Skelett von einem Mädchenkörper, über und über mit eiternden Geschwüren bedeckt. Das Mädchen war so schwach, dass es nicht einmal weinen konnte. Ihre Oberschenkel waren so dick wie der Daumen eines Erwachsenen. Als Ruth dieses sterbende Kind – Sheela – sah, brach sie in Tränen aus. „Was fehlt ihr?“, fragte sie die Mutter. Die Mutter verzog das Gesicht und sagte: „Ach, sie isst nichts. Alles, was wir ihr geben, spuckt sie wieder aus.“ – „Waren Sie mit ihr beim Arzt?“ – „Was nützt das? Was können die Ärzte schon tun, wenn sie nichts essen will?“ Und: „Wie sollen wir uns das denn leisten können, zum Arzt zu fahren?“ Ruth tat es leid, dass sie so arm waren, also sagte sie: „Ich gebe Ihnen das Geld, um mit dem Kind ins Krankenhaus zu fahren.“ Doch die Mutter sagte: „Ich habe Angst vor der Stadt. Ich kann da nicht hin.“ „Na, dann nehmen Sie Ihren Mann mit.“ – „Der kann hier nicht weg. Wer soll sich denn um die Felder und das Vieh kümmern?“ Ruth schwang sich auf ihr Rad, fuhr zurück nach Hause und bestürmte mich. „Du musst unbedingt mit dem Ehemann reden. Ich ging hin, obwohl das Ehepaar mich nicht erwartete. Sie hatten sich bereits entschieden, nicht zum Krankenhaus zu fahren. „Warum nicht?“, wollte ich wissen. Meine Frau hat Ihnen doch gesagt, dass wir Ihnen das Geld geben. – „Wir wollen uns nicht verschulden.“ – „Ich gebe es Ihnen schriftlich, dass es ein Geschenk ist, kein Darlehen.“ – Jetzt wurden sie richtig ärgerlich. „Was kümmert Sie das überhaupt? Es ist unsere Tochter.“ Diese Frage konnte ich nur so deuten, dass sie wollten, dass Sheela stirbt. Ich konnte es zwar nicht glauben, dass Eltern so etwas fertigbringen, aber eine andere Erklärung für ihr Verhalten fand ich nicht. Also beschloss ich, laut zu werden und zumindest so zu tun, als wäre ich wütend.
… ist unantastbar
„Wollen Sie dieses Kind umbringen? Wenn Sie dieses Kind nicht ins Krankenhaus bringen, komme ich morgen mit der Polizei und zeige Sie an, weil Sie dieses Kind töten.“ Inzwischen hatte sich eine Menschenmenge um uns versammelt, und ich schaute in die Runde, um mir moralische Unterstützung zu holen, aber alle schauten mich an, als wäre ich ein Idiot. Ich brauchte Monate, um zu verstehen: Die Eltern hielten sich an das, was in diesem Dorf Brauch war! Sie hatten ja bereits ein Mädchen, wozu noch ein zweites? Das erste kann kochen und sauber machen und sich um die Geschwister kümmern. Warum noch ein Mädchen aufziehen, das dann irgendwann eine Mitgift braucht, um heiraten zu können?
Schließlich durften wir mit Sheela ins Krankenhaus fahren und sie danach einen Monat in unserem Haus aufnehmen. Wir schlossen Sheela fest ins Herz und sie begann, auf diese Liebe zu reagieren. Zum ersten Mal konnten wir sie lächeln sehen. Ihr Lächeln war alle Mühe wert. Doch etwa einen Monat später kam die Mutter und fing Streit an. „Im Dorf sagen alle, dass unsere Tochter euer Essen isst und dass das unsere Kaste befleckt. Wir werden ausgestoßen werden. Wir wollen unsere Tochter zurück haben.“ Ruth erwiderte: „Wir haben nicht die Absicht, euch Sheela wegzunehmen. Ich werde gern die Milch bezahlen, aber das Geld gebe ich direkt dem Milchmann. Sie kümmern sich um Sheela, und wir kommen sie besuchen.“ Aber innerhalb weniger Wochen ging es Sheela wieder genauso schlecht wie am Anfang. Die Milch bekam nicht Sheela, sondern ihre Brüder. Das Ganze ging wieder von vorne los. Ruth musste sich mit der Mutter streiten, ich musste mich mit dem Vater streiten, und dann musste Ruth mit Sheela und ihrer Mutter ins Krankenhaus fahren. Sheela bekam erneut eine Infusion, wurde mit dem Schlauch ernährt und kam schließlich wieder zu uns nach Hause. Und die Mutter kam wieder und fing wieder Streit an. Wir gaben ihr Sheela mit, zusammen mit etwas Babykleidung. Wir hofften, diesmal würde es besser laufen. Ein paar Tage später war Sheela tot. Ich war überzeugt, dass ihre Eltern sie getötet hatten. Ruth konnte nicht glauben, dass Eltern so etwas tun könnten. Nach drei weiteren Erlebnissen dieser Art begann Ruth zu begreifen, dass Infantizid eine verbreitete Praxis in unserer Gegend war, und beschloss, dass wir dieses Risiko niemals mehr eingehen durften. Wenn Eltern ein Kind nicht wollen, wollten wir das Baby nehmen und ein Zuhause für es finden. Das wurde unsere Methode: Keine Fragen, keine Diskussionen, keine Argumente – wenn Sie das Kind nicht wollen, finden wir ein Zuhause für es.
Kostbar oder Klotz am Bein?
Hier ist nicht genug Platz, um all diese Geschichten zu erzählen. Der springende Punkt ist, dass das, was wir mit Sheelas Eltern erlebten, ein Zusammenprall zweier Weltanschauungen war, die nicht beide wahr sein können. Wir sahen dieses Kind völlig anders als ihre Eltern. Für uns war sie ein kostbares Individuum. Für sie war eine zweite Tochter ein Klotz am Bein. „Warum ist es falsch, ungewollte Babys zu töten?“, würden Sheelas Eltern vielleicht weiter fragen. „Wir glauben, dass Kühe heilig sind, aber ihr bringt sie um. Eure Vorfahren in Griechenland und Rom haben genau wie wir Infantizid praktiziert, aber ihr denkt heute, menschliches Leben sei heilig. Warum sollten wir an eure Werte gebunden sein? Schließlich ist euren Universitäten zufolge eine Kuh nur eine Art von Tier und ein Mensch eine andere. Welchen Wert eine Gesellschaft Kühen oder Menschen zumisst, ist eine willkürliche gesellschaftliche Konvention. Wenn eure Universitäten recht haben, wenn es keinen Gott gibt, der gesagt hat: „Du sollst nicht töten“, warum ist dann Mord etwas Falsches? Woher bekommt denn ein Mensch sein Grundrecht auf Leben, Eigentum oder Gewissen, wenn nicht von der Gesellschaft? Warum kann eine Gesellschaft das Recht auf Leben, das doch von ihr stammt, nicht wieder wegnehmen – oder zumindest Ausnahmen von den normalen Regeln machen? Unsere Gesellschaft erlaubt es uns, ungewollte Babys zu töten. Wer gibt euch das Recht, uns eure moralischen Wertvorstellungen aufzuzwingen?“ Sheelas Eltern wussten nicht, dass Armut und Elend nicht unvermeidlich und unentrinnbar sind. Im Grunde war ihnen nicht einmal ihre eigene Menschenwürde bewusst. Als Hindus akzeptierten sie die erste Edle Wahrheit des Buddha, der zufolge Leben gleichbedeutend ist mit Leiden. Sheelas Eltern waren arm, aber ihre Armut war nicht nur materieller Art. Sie wussten, dass wir willens waren, Sheela ein neues Leben zu geben, aber ihnen fehlte der Glaube. Eine zweite Tochter war für sie nicht wertvoll genug, um dem Druck einer Kultur zu widerstehen, der es lieber war, wenn sie starb, als wenn sie unsere Speisen aß.
Ein Schicksal – diesmal anders
Vergleichen Sie diese Geschichte mit der Geschichte von Helen Keller. Als sie neunzehn Monate alt war, wurde Helen taub und blind. Weil sie bis dahin noch nicht angefangen hatte zu sprechen, wurde sie auch stumm. Physisch war sie zwar in der Lage zu sprechen, psychologisch aber nicht. Sie war in ihr eigenes Ich eingeschlossen, unfähig, mit irgendjemandem auf der Welt zu kommunizieren, frustriert, wütend und unverständig. Aus dem säkularen Blickwinkel unserer Zeit hatte Helens Leben nur einen geringen Wert. Sie war ein Mädchen, taub, stumm und blind. In den Niederlanden könnte sie heutzutage legal euthanasiert werden. Neben der Legalisierung der Polygamie sind die Niederlande auch die erste westliche Nation, die den Infantizid unter gewissen Umständen für rechtens erklärt hat. Amerika wird den Niederlanden, China und Indien folgen, da immer mehr Menschen zu dem Schluss kommen, ein Mensch sei nicht mehr als ein Tier, er habe keinen innewohnenden, gottgegebenen Wert. Der einzige Wert, den er besitze, sei relativ, er werde ihm willkürlich von anderen Menschen zugewiesen.
Helen Kellers Glück war, dass sie in einer anderen Zeit geboren wurde, als der Westen – aufgrund der Autorität der Bibel – noch daran glaubte, dass ein taubes und blindes Mädchen immer noch ein Mensch ist, ein Ebenbild Gottes. Anne Sullivan, Helens Krankenschwester, Lehrerin und Haushälterin, liebte Helen. Eines Tages ging sie mit ihr zu einem Brunnen und hielt Helens Hand in den Wasserstrahl. Während Helen verblüfft auf die Empfindung des Wassers reagierte, das über ihre eine Hand floss, schrieb Anne das Wort Wasser auf Helens andere Hand – zuerst langsam, dann schneller. Helen war fasziniert. Plötzlich verstand sie, dass das, was da auf ihre eine Hand gezeichnet wurde, der Name dieses kühlen Etwas war, das über ihre andere Hand strömte. Helens Welt veränderte sich, der Zauber der Sprache begann einen Sinn zu ergeben. Obwohl sie immer noch stumm war, lernte sie durchs Schreiben schon am ersten Tag Wörter wie Vater, Mutter, Lehrer, Bruder und Schwester. Binnen weniger Wochen begann Helen zu sprechen. Dann lernte sie auf einer speziellen Braille-Schreibmaschine zu tippen und wurde später zu einer vielbeachteten Fürsprecherin für behinderte Kinder in aller Welt. Was machte für Helen den Unterschied aus? War es der Wohlstand ihrer Eltern oder deren Glaube, dass ein taubes, stummes und blindes Mädchen wertvoll sei? Helen bekam Hilfe und konnte aufblühen, weil ihre Kultur daran glaubte, dass ein taubes und blindes Mädchen kein unnützes Kind ohne Wert sei. Helen war so wichtig, dass Gott selbst auf die Erde gekommen war, um ihr ewiges Leben zu schenken. Deshalb mussten die Menschen in ihrer Umgebung alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihr zu einem erfüllten Leben zu verhelfen.
Was der Glaube vermag
Der Glaube an die einzigartige Würde des Menschen war die Kraft, die die westliche Zivilisation erschuf, wo Bürger nicht für den Staat existieren, sondern der Staat für die Einzelnen. Auch Könige, Präsidenten, Premierminister und Armeegeneräle dürfen nicht auf einem einzelnen Menschen und seinen Rechten herumtrampeln. Der Gedanke der Menschenwürde befreite in Großbritannien Kinder aus den finsteren, satanischen Mühlen der industriellen Revolution. Er führte zur amerikanischen Revolution, die den Kolonialismus beendete, und zum amerikanischen Bürgerkrieg, der der Sklaverei ein Ende machte. Bis heute inspiriert er alle möglichen Bewegungen für Gerechtigkeit und Gleichheit.
Der Westen schätzt den Menschen als wertvoll ein, weil die Bibel sagt:
Was ist der Mensch,
dass du [Gott] an ihn denkst?
Wie klein und unbedeutend ist er,
und doch kümmerst du dich um ihn.
Ja, du hast ihm eine hohe Stellung gegeben – nur wenig niedriger als die Engel.
Mit Ruhm [dignitas] und Ehre
hast du ihn gekrönt.
Du hast ihm den Auftrag gegeben,
über deine Geschöpfe zu herrschen.
Alles hast du ihm zu Füßen gelegt
(Psalm 8,5 – 7).
Heute ist der Westen, insbesondere Europa, eifrig damit beschäftigt, seine eigene Seele zu amputieren. Er verwirft die Quelle seiner Größe, nämlich die durch Gottes Wort offenbarte Wahrheit, die den Wert jedes einzelnen Menschen definiert und den Zweck und die Funktion des Staates umdefiniert. Der Westen verwirft die Quelle seiner Moral, Rationalität, der Familie und der Humanität: die intellektuelle Grundlage der Menschenrechte, der Gerechtigkeit, der Barmherzigkeit, der Fürsorge und der Bildung.
Ein Umstand, der mich als Inder angesichts dieser deprimierenden Situation tröstet, ist, dass Bollywood-Filme wie „Taare Zameen Pan“ („Ein Stern auf Erden“) versuchen, Indien zu verändern, indem sie unsere Kultur mit dem biblischen Gedanken der Würde eines jeden Kindes infiltrieren. Helen Kellers Eltern entschieden sich für den emotional und finanziell kostspieligeren Kurs als Sheelas Eltern, weil sie glaubten, dass Helen als Mensch, in dem eine Seele wohnt, unendlich wertvoll sei. Das ist die Wahrheit, die den Wandel bringt.
Aber ist Wandel in unserer Welt noch möglich? Wie Jesaja und die anderen alttestamentlichen Propheten erkannten, kann es in einer Gesellschaft, die ihre Seele verkauft hat, einen hohen Preis kosten, wenn man für die Wahrheit eintritt. In einer Passage über den Preis für umfassende Heilung und Transformation schrieb Jesaja: Er wurde für uns bestraft – und wir? Wir haben nun Frieden mit Gott! Durch seine Wunden sind wir geheilt (53, 5). Durch seine Wunden bringt der Messias einer Nation die Heilung.
aus: V. Mangalwadi, Wahrheit und Wandlung. Fontis-Verlag, Basel 2016, € 19,99