
Weit herumgekommen
Ich will dich unterweisen und dir den Weg zeigen, den du gehen sollst; ich will dich mit meinen Augen leiten (Ps 32,8).
Obwohl mein Konfirmationsvers vom Unterwegssein und Geleitetwerden handelt, habe ich als Kind keinen Augenblick gedacht, das Abenteuer meines Lebens würde sich woanders abspielen als auf dänischem Boden. Das Pfarramt meines Vaters führte mich zwar an drei jütländische Wohnorte und sechs verschiedene Schulen, über die Landesgrenzen gelangte ich aber nur selten.
Dänemark, Aarhus
Beim Stöbern in den Bücherregalen im Pfarrhaus, die eine große Anziehungskraft auf mich als 16- bis 17-Jährigen ausübten, fiel mir die „Nachfolge“ von Dietrich Bonhoeffer in die Hand. Ich verschlang das Buch und legte es erst wieder weg, als ich es ausgelesen hatte. Weitere Werke Bonhoeffers folgten. Ihre Lektüre weckte in mir die Sehnsucht nach einem verbindlicheren christlichen Leben als ich es aus den Predigten und Bibelstudien meiner pietistischen Heimat in der lutherischen Volkskirche kannte. Als eine Freundin mir von einer Lebensgemeinschaft in Deutschland erzählte, die stark von Bonhoeffer inspiriert zu sein schien, wusste ich, wie mein ersehntes Abenteuer nach dem Abitur Gestalt annehmen konnte. Ein Jahr lang wollte ich neue Formen gemeinsamen Lebens kennenlernen und meine Sprachkenntnisse vertiefen, um für die Lektüre deutscher Theologen im Studium gut gerüstet zu sein.
Deutschland, Reichelsheim
Das waren meine Pläne. Nach Dänemark bin ich nicht wieder zurückgekehrt. Im Laufe des Jahres verlor ich mein Herz an eine junge deutsche Frau, und da ihr Weg nach Hamburg führte, zog ich auch dorthin – auf Gottes Leitung vertrauend. Den Plan, in Aarhus Theologie zu studieren, hatte ich nicht aufgegeben, doch, so dachte ich mir, könnte ich hier erst etwas lernen, was die Theologie gut ergänzen würde – journalistisches Know-how. Ein Freund empfahl mir den Studiengang Journalistik an der katholischen Universität in Eichstätt, Bayern. Dort könne ich mir auch hervorragend weitere Sprachen aneignen. Dem war auch so, zumal ich für mein Studium Spanisch lernen musste; Dänisch wurde als Sprachkenntnis in einer modernen europäischen Sprache nicht anerkannt.
Deutschland, Eichstätt
In diesen Jahren drehte sich überhaupt viel in meinem Leben um Sprache(n). Ein emeritierter Soziologieprofessor etablierte universitäre Arabischkurse – in Zukunft brauchen wir Menschen, die diese Sprache beherrschen, so seine Begründung –, die ich nach dem Vordiplom mit großem Eifer besuchte. Stach ich schon nicht durch Sprachgewandtheit im Deutschen hervor, würden doch Fertigkeiten in dieser exotischen und politisch brisanten Sprache meine Chancen auf dem umkämpften journalistischen Arbeitsmarkt gewiss nicht schmälern, so mein Kalkül. Die Zeit in Eichstätt erweiterte auch mein Vokabular im Glauben. Uns pietistisch geprägten Lutheranern aus dem durch und durch protestantischen Norden galt „katholisch“ eher als Fremdwort. Eher hätte ich im Lotto gewonnen, als in Dänemark einem Katholiken zu begegnen. Dort heißt Ökumene „querkirchlich“ (tværkirkelig). Damit meinen wir drei Spielarten des lutherischen Pietismus mitsamt den Charismatikern und – ganz wild – den Pfingstlern und Baptisten. In Eichstätt hingegen wimmelte es von Jesuiten, Dominikanern und Kapuzinern. Fronleichnam und Mariä Himmelfahrt waren unbekannte, aber willkommene zusätzliche freie Tage, das Semester begann und endete selbstverständlich mit einem Gottesdienst, in dem alle, die den, wie der Bischof betonte, „wahren katholischen Glauben“ bekannten, zur Eucharistie eingeladen waren. Also blieb ich sitzen und dachte über meine neuen ökumenischen Erfahrungen nach, die alles sprengten, was ich aus der Heimat kannte. In diesen Jahren lernten wir – die junge Deutsche war inzwischen meine Frau geworden – Katholiken kennen, die uns zu Freunden und Glaubensgefährten wurden. Ihnen waren eine persönliche Jesus-Beziehung und gemeinsames geistliches Leben ebenso ein Herzensanliegen wie uns. Mir dämmerte, was auch der Prophet Samuel lernen musste. Nicht die Lieder, die Art der Frömmigkeit, die Gebetshaltung und Zeichen und Gesten machen einen Christen aus. Gott sieht das Herz an. Ich durfte erleben, dass katholische Geschwister meinen Glauben stärkten und mein Herz ansprachen, mitten in vielem, was mir fremd war und geblieben ist.
Libanon, Beirut
Fremder noch, ja ein wenig verloren fühlte ich mich in der folgenden Etappe unseres Lebens: Die Busfahrten zum Arabischsprachkurs in Beirut, Libanon, wo wir nach dem Studium hingezogen waren, führten an vielen Soldaten und militärischen Checkpoints vorbei. Keine sechs Wochen vergingen am Stück, ohne dass eine politisch motivierte Autobombe hochging, und bevor mein erstes Studienjahr vorüber war, hatten Milizen der schiitischen Partei Hisbollah die Innenstadt Beiruts besetzt. Just in diesen Tagen erwartete meine Frau die Geburt unseres ersten Kindes im Hause ihrer Eltern in der Bekaa-Ebene, während ich das Vorrecht genoss, mit Mitarbeitern des Christlichen Hilfsbunds im Orient einen Besuch bei Christen in der syrischen Dschazira abzustatten. In der Nähe von Hasakeh waren wir Gäste eines Bischofs der syrisch-orthodoxen Kirche. Mit ihm besuchten wir mehrere christliche Dörfer auf der Strecke nach Qamischli und wohnten einer Lebensmittelverteilung unter irakischen Christen bei, die damals – fünf Jahre nach dem Einmarsch der „Koalition der Willigen“ 2003 in den Irak – immer noch Flüchtlinge waren. Besonders der Besuch in einem Flüchtlingslager in Hasakeh wird mir in Erinnerung bleiben. Eine irakische Witwe empfing uns in ihrer Hütte, in der sie mit vielen noch kleinen Kindern hauste. Das einzige, was sie uns anzubieten hatte, war ein Schluck Leitungswasser aus einem dürftig gespülten Glas. Auch wenn es nur Wasser war und nach orientalischem Standard für einen Gast viel zu wenig; was sie hatte, wurde mit dem Gast geteilt. Die zwei Jahre im Nahen Osten haben mich tief geprägt: die Gastfreundschaft, die faszinierende Sprache, das reiche geschichtliche Erbe. Zugleich erlebte ich eine äußerst gespaltene Gesellschaft (auch) aufgrund ethnisch-religiöser Spannungen, in deren Folge das politische System zwischen gelähmt und nicht-funktionierend pendelte. Strom gab (und gibt) es oft nur zwölf Stunden am Tag, Müll verunstaltet nicht nur Dörfer und Städte, sondern auch Berg, Tal und Meer, und die seelische Verwundung tritt nach einem verheerenden 15-jährigen Bürgerkrieg bei vielen, auch in der zweiten Generation, mit unverminderter Kraft zutage. Bis heute gibt es wenig Bemühungen um Aufarbeitung oder Versöhnung.
Wieder Deutschland, wieder Odenwald
In dieser Zeit erreichte uns eine Anfrage aus Reichelsheim, die uns vor eine Wahl stellte: arabische Satzlehre oder die Grammatik der Gemeinschaft; im Gaststatus leben oder selbst Gastgeber sein; sehnsüchtig Richtung Israel blicken oder tiefe Einblicke in die eigene Sehnsucht gewinnen. Es war für uns die Einladung ins Abenteuer des gemeinsamen Lebens.
Seither sind zehn Jahre vergangen.
Inzwischen stehen meine Frau und ich nicht nur mit vier eigenen Kindern mitten im Großfamilienalltag, wir haben uns auch ganz auf das verbindliche gemeinsame Leben eingelassen und sind im Herbst 2016 in die OJC-Kommunität eingetreten. Dabei wurde offenbar, dass sich mein Ringen in den letzten zwei Jahrzehnten durchaus mit dem Auftrag der OJC überschneidet. Ich wollte sprachfähig werden, um Menschen zu begegnen und Brücken zu bauen; wollte Kulturen verstehen, die einander fremd und sprachlos gegenüberstehen, und mich darin üben, die Schätze und das Charisma der Glaubensgeschwister anderer Denominationen wahrzunehmen und wert zu achten. Wo dieses Abenteuer uns miteinander hinführt, weiß nur Einer. Ich weiß nur, wir bleiben mit Sicherheit in Bewegung.