Ein Mann steht alleine auf einer Bühne und spielt eine Szene.

Feinsilbig

Mime Matthias in Aktion

Im Hof des Reichelsheimer Europäischen Jugendzentrums, dem REZ, wimmelt es von Menschen, ein großes Kommen und Gehen von der Dorfstraße her. Seit über 20 Jahren lädt das Dorf ein zu den „Reichelsheimer Märchen- und Sagentagen“, immer im Oktober. Unter den vielen Veranstaltungen gibt es einen Insider-Tipp: Auf dem ehemaligen Heuboden des REZ wird jedes Jahr eine „wahre Geschichte“ erzählt. Für die heutige „von einem, der auszog, sein Volk zu befreien“ hat sich vor dem Eingang schon eine Schlange gebildet. Kinder und Erwachsene treten aus dem Trubel des Hofes in das verheißungsvolle Halbdunkel des Saales. Die Kulisse an der Stirnseite ist denkbar schlicht – ein Holzpodest vor schwarzem Hintergrund. Und als ein Scheinwerfer das Dunkel erhellt, steht ein einziger Mann auf der Bühne: „Ich bin Mose.“ Hier wird die archaische Geschichte, tausendmal erzählt, lebendig.

30 Minuten lang hängt das Publikum an den Bewegungen von Matthias Casties. Wenig Worte, viel Pantomime. Ein leises Stöhnen ist in den Reihen der Kinder zu hören, als er sich gegen einen imaginären Steinblock stemmt, hochrot im Gesicht: er stellt einen hebräischen Sklaven dar. Und natürlich Mose in vielen Variationen: vom stolzen Jüngling am ägyptischen Hof über den impulsiven israelitischen Rebellen bis zum Wüstenhirten – stets reichen Mimik, Gestik und minimale Requisiten, um sein wechselhaftes Schicksal und die Bandbreite seiner Emotionen zu verdeutlichen. Die Szene, in der er vom Gott seiner Väter angesprochen – per Stimme aus dem Off – am Dornbusch mit sich ringt, schlägt einen in den Bann. Die zwei Seiten der Bühne werden zum Feld der Entscheidung, in dem Mose seine Argumente aushandelt. Rechts: Lieber alles so lassen (Ziegen, Zaster, …), kein Risiko eingehen, keine Konfrontation mit dem Pharao – aber Stillstand. Links, dort wohin sich der Mime nur auf Zehenspitzen tastend vorwagt: Aufbruch, Wagnis – aber Gefahr. Er rüttelt wie an Gitterstäben in einem Kerker. Spannung und Last der Situation drücken auch auf den Betrachter. Wie wird sich Mose entscheiden? Es ist wie ein Aufatmen, als er sich von der Stimme aus dem Off überzeugen lässt, als hielte ein Kind die Hand eines Großen, so lässt er sich von ihr über die Linie ziehen.

Voller Komik die Szene vor dem Pharao. Der Darsteller mimt abwechselnd den um seine Macht bemühten Gewaltherrscher und den entlaufenen Sklaven, der sich windet und sich nur auf die Herrschaft Gottes berufen kann. In pointierten Wiederholungen und sich verkürzenden Sprechakten umreißt der Mime beide Figuren und den zwischen ihnen bestehenden unversöhnlichen Gegensatz. Endlich steht fest – die Hebräer dürfen ziehen!

Große Dynamik und Dramatik erfasst die kleine Holzbühne: Ein Schemel – die Hebräer –, ein blaues Tuch – das Meer, und ein größerer Stuhl – die Ägypter. Mose zieht mit den Hebräern durch die Wüste bis ans Meer, als das Volk vom Hufgetrappel eingeholt wird. Entsetzen auf dem Gesicht des Mose, das Volk in der Falle. Aussichtslos. Das Licht geht aus, es wird stockfinster im Saal.

Als die Beleuchtung wieder angeht, schlurft im blauen Kittel und mit großer Brille ein älterer Herr ins Publikum. „Ich bin der Hausmeister“, näselt er in norddeutschem Tonfall. Er übernimmt beherzt die Regie, um „den Herr Mose bei sein’ Abenteuer zu unterstützen“ und adelt das Publikum zur Geräuschkulisse: Hufgetrappel produzieren die einen, Windgeräusche die anderen, dazu die nackten Füße der Hebräer und einige machen mit geknitterten Zeitungen das Schilfgras hörbar.

Dann verschwindet er, und wieder sehen wir Mose verzweifelt am Ufer, den die Stimme aus dem Off heißt, mit dem Volk loszuziehen. Es wird hektisch auf der Bühne, der kleine Schemel wird ins offene Meer geschoben, der große Stuhl hinterher, wieder die Hebräer, wieder die Ägypter, hin und her springt der Schauspieler und das Publikum assistiert auf Zuruf: Es windet, raschelt, trappelt im Saal, kaum hört man noch die Stimme des Moses. Das blaue Tuch bedeckt den Ägypterstuhl – das Schemelchen ist gerettet! Jubel im Publikum, Mose tanzt einen Freudentanz. Als es auf der Bühne und im Saal wieder still wird, wendet sich der alte Prophet an die Zuschauer. Schlicht und kurz:
„Das war mein Abenteuer mit Gott. Auch ihr könnt mit Gott ein Abenteuer erleben!“

So packend, so spannend, so lebendig. Die Vorstellung ist ausgeschrieben für Kinder ab sechs Jahren. Die ganze Tiefe erfasst man kaum als Erwachsener. Es ist eben eine wahre Geschichte.

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